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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Das Renthier.
mehr und mehr verkleinernde Gestalt sähe, doch sicherlich in ihr keinen Menschen erkennen würde.
Sobald der Jäger auf dem Boden liegt, probt er nochmals durch kleine Stücken Mos, welche er
losreißt und in die Höhe wirft, den Wind, und dann beginnt er auf dem Bauche fortzukriechen,
um sich soviel als möglich dem Rudel zu nähern. Mein alter Erik verstand diese Art sich zu bewegen
so meisterhaft, daß ich, der ich mir einbildete, auch schleichen und kriechen zu können, wie ein be-
schämter Schulbube vor ihm stand oder vielmehr lag: denn mit Ausnahme der Fersengelenke bewegte
sich an dem ganzen Mann kein Glied, und dennoch glitt er, wenn auch höchst langsam, immer und
immer vorwärts. Wenn ein Wasser dem Jäger in den Weg kommt, kann er natürlich nicht aus-
weichen; aber da das Rinnsal etwas vertieft ist, kommt er auch darüber hinweg. Das Gewehr wird
über den Nacken gelegt, so daß Schloß und Mündung sicher über das Wasser kommen, das Pulver-
horn steckt er zwischen Hemd und Brust; ob das Uebrige naß wird, kümmert den Mann natürlich
nicht -- und so läuft er auf allen Vieren durch den Wildbach: -- wir haben es auch gethan. Klei-
nere Graben werden ohne weitere Umstände durchkrochen; denn schon die Renthierflechten sind so
feucht, daß der kriechende Jäger auf der ganzen Vorderseite eben so naß wird, als ob er sich im Wasser
gebadet hätte. Derart nähert man sich mehr und mehr dem Rudel und ist sehr froh, wenn man näher
als zweihundert Schritte an dasselbe herankommt. Die meisten norwegischen Jäger schießen nicht aus
bedeutender Entfernung und können Dies, der geringen Güte ihrer Waffen halber, auch nicht thun; ver-
möchten sie aber aus einer Entfernung von dreihundert Schritten mit Sicherheit zu schießen, so würde
gewiß jede Jagd ihnen eine Beute bieten; denn bis zu dieser Entfernung lassen die Renthiere einen
geschickten Jäger regelmäßig an sich herankriechen. Sind nun Steine in der Nähe, so setzt der
Kriechende seinen Weg fort, selbstverständlich so, daß er immer einen größeren Stein zwischen sich und
dem Leitthier hat, also gedeckt wird. So kann es kommen, daß er bis auf 120 Schritte an das
Rudel heranschleicht und dann seine alte, erprobte Büchse mit Sicherheit zu brauchen vermag. Er
legt bedächtig auf einem Steine auf, zielt lange und sorgfältig und feuert dann nach dem besten Bock
des Rudels hin, falls dieser sich ihm günstig gestellt hat.

Nach meiner Erfahrung ist das Rudel nach dem ersten Schuß so verblüfft, daß es noch eine
geraume Zeit verwundert stehen bleibt; erst nachdem es sich von der Gefahr vollständig überzeugt
hat, wird es flüchtig. Diese Beobachtungen haben auch die norwegischen Jäger gemacht, und deshalb
gehen sie gern selbander oder zu Dreien und Vieren auf die Jagd, schleichen zugleich nach einem
Rudel hin, zielen verabredetermaßen auf bestimmte Thiere und lassen einen zuerst feuern; dann
schießen auch sie. Jch bin fest überzeugt, daß Jäger, welche mit guten, sicheren Doppelbüchsen be-
waffnet sind, aus ein und demselben Rudel fünf bis sechs Renthiere wegschießen können, wenn sie
sonst sich geschickt angeschlichen haben und regungslos hinter den Steinen liegen bleiben. Die ge-
ringste Bewegung freilich scheucht das Rudel augenblicklich in die wildeste Flucht.

Von dieser waidmännischen Jagdart ist die, welche die Sibirier und Amerikaner betreiben, aller-
dings sehr verschieden. "Die Jukahiren und die übrigen Bewohner der Gegend längs dem Aniuj-
flusse in Sibirien," sagt von Wrangel, "hängen ganz von dem Renthier ab, welches hier, wie in
Lappland, fast ausschließlich Nahrung, Kleidung, Fuhrwerk, Wohnung liefert. Die Renthierjagd
entscheidet, ob Hungersnoth oder Wohlleben herrschen wird, und die Zeit der Renthierzüge ist hier
der wichtigste Abschnitt des Jahres. Wenn die Thiere auf ihren regelmäßigen Wanderungen zu den
Flüssen kommen und sich anschicken, über dieselben hinwegzuschwimmen, stürzen die Jäger in ihren
kleinen Kähnen pfeilschnell hinter Büschen, Gesteinen etc., wo sie sich bis dahin verborgen gehalten,
hervor, umringen den Zug und suchen ihn aufzuhalten, während zwei oder drei der gewandtesten
unter ihnen mit einem kurzen Spieße bewaffnet in den schwimmenden Haufen hineinfahren und in
unglaublich kurzer Zeit eine große Menge tödten oder doch so schwer verwunden, daß sie höchstens
das Ufer erreichen, wo sie den dort wartenden Weibern, Mädchen und Kindern in die Hände fallen.
Die Jagd ist übrigens mit großer Gefahr verbunden. Jn dem ungeheuren Gewühl der dicht unter
einander schwimmenden Thiere ist der kleine, leichte Kahn ohnehin jeden Augenblick dem Umwerfen

Das Renthier.
mehr und mehr verkleinernde Geſtalt ſähe, doch ſicherlich in ihr keinen Menſchen erkennen würde.
Sobald der Jäger auf dem Boden liegt, probt er nochmals durch kleine Stücken Mos, welche er
losreißt und in die Höhe wirft, den Wind, und dann beginnt er auf dem Bauche fortzukriechen,
um ſich ſoviel als möglich dem Rudel zu nähern. Mein alter Erik verſtand dieſe Art ſich zu bewegen
ſo meiſterhaft, daß ich, der ich mir einbildete, auch ſchleichen und kriechen zu können, wie ein be-
ſchämter Schulbube vor ihm ſtand oder vielmehr lag: denn mit Ausnahme der Ferſengelenke bewegte
ſich an dem ganzen Mann kein Glied, und dennoch glitt er, wenn auch höchſt langſam, immer und
immer vorwärts. Wenn ein Waſſer dem Jäger in den Weg kommt, kann er natürlich nicht aus-
weichen; aber da das Rinnſal etwas vertieft iſt, kommt er auch darüber hinweg. Das Gewehr wird
über den Nacken gelegt, ſo daß Schloß und Mündung ſicher über das Waſſer kommen, das Pulver-
horn ſteckt er zwiſchen Hemd und Bruſt; ob das Uebrige naß wird, kümmert den Mann natürlich
nicht — und ſo läuft er auf allen Vieren durch den Wildbach: — wir haben es auch gethan. Klei-
nere Graben werden ohne weitere Umſtände durchkrochen; denn ſchon die Renthierflechten ſind ſo
feucht, daß der kriechende Jäger auf der ganzen Vorderſeite eben ſo naß wird, als ob er ſich im Waſſer
gebadet hätte. Derart nähert man ſich mehr und mehr dem Rudel und iſt ſehr froh, wenn man näher
als zweihundert Schritte an daſſelbe herankommt. Die meiſten norwegiſchen Jäger ſchießen nicht aus
bedeutender Entfernung und können Dies, der geringen Güte ihrer Waffen halber, auch nicht thun; ver-
möchten ſie aber aus einer Entfernung von dreihundert Schritten mit Sicherheit zu ſchießen, ſo würde
gewiß jede Jagd ihnen eine Beute bieten; denn bis zu dieſer Entfernung laſſen die Renthiere einen
geſchickten Jäger regelmäßig an ſich herankriechen. Sind nun Steine in der Nähe, ſo ſetzt der
Kriechende ſeinen Weg fort, ſelbſtverſtändlich ſo, daß er immer einen größeren Stein zwiſchen ſich und
dem Leitthier hat, alſo gedeckt wird. So kann es kommen, daß er bis auf 120 Schritte an das
Rudel heranſchleicht und dann ſeine alte, erprobte Büchſe mit Sicherheit zu brauchen vermag. Er
legt bedächtig auf einem Steine auf, zielt lange und ſorgfältig und feuert dann nach dem beſten Bock
des Rudels hin, falls dieſer ſich ihm günſtig geſtellt hat.

Nach meiner Erfahrung iſt das Rudel nach dem erſten Schuß ſo verblüfft, daß es noch eine
geraume Zeit verwundert ſtehen bleibt; erſt nachdem es ſich von der Gefahr vollſtändig überzeugt
hat, wird es flüchtig. Dieſe Beobachtungen haben auch die norwegiſchen Jäger gemacht, und deshalb
gehen ſie gern ſelbander oder zu Dreien und Vieren auf die Jagd, ſchleichen zugleich nach einem
Rudel hin, zielen verabredetermaßen auf beſtimmte Thiere und laſſen einen zuerſt feuern; dann
ſchießen auch ſie. Jch bin feſt überzeugt, daß Jäger, welche mit guten, ſicheren Doppelbüchſen be-
waffnet ſind, aus ein und demſelben Rudel fünf bis ſechs Renthiere wegſchießen können, wenn ſie
ſonſt ſich geſchickt angeſchlichen haben und regungslos hinter den Steinen liegen bleiben. Die ge-
ringſte Bewegung freilich ſcheucht das Rudel augenblicklich in die wildeſte Flucht.

Von dieſer waidmänniſchen Jagdart iſt die, welche die Sibirier und Amerikaner betreiben, aller-
dings ſehr verſchieden. „Die Jukahiren und die übrigen Bewohner der Gegend längs dem Aniuj-
fluſſe in Sibirien,‟ ſagt von Wrangel, „hängen ganz von dem Renthier ab, welches hier, wie in
Lappland, faſt ausſchließlich Nahrung, Kleidung, Fuhrwerk, Wohnung liefert. Die Renthierjagd
entſcheidet, ob Hungersnoth oder Wohlleben herrſchen wird, und die Zeit der Renthierzüge iſt hier
der wichtigſte Abſchnitt des Jahres. Wenn die Thiere auf ihren regelmäßigen Wanderungen zu den
Flüſſen kommen und ſich anſchicken, über dieſelben hinwegzuſchwimmen, ſtürzen die Jäger in ihren
kleinen Kähnen pfeilſchnell hinter Büſchen, Geſteinen ꝛc., wo ſie ſich bis dahin verborgen gehalten,
hervor, umringen den Zug und ſuchen ihn aufzuhalten, während zwei oder drei der gewandteſten
unter ihnen mit einem kurzen Spieße bewaffnet in den ſchwimmenden Haufen hineinfahren und in
unglaublich kurzer Zeit eine große Menge tödten oder doch ſo ſchwer verwunden, daß ſie höchſtens
das Ufer erreichen, wo ſie den dort wartenden Weibern, Mädchen und Kindern in die Hände fallen.
Die Jagd iſt übrigens mit großer Gefahr verbunden. Jn dem ungeheuren Gewühl der dicht unter
einander ſchwimmenden Thiere iſt der kleine, leichte Kahn ohnehin jeden Augenblick dem Umwerfen

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[439/0465] Das Renthier. mehr und mehr verkleinernde Geſtalt ſähe, doch ſicherlich in ihr keinen Menſchen erkennen würde. Sobald der Jäger auf dem Boden liegt, probt er nochmals durch kleine Stücken Mos, welche er losreißt und in die Höhe wirft, den Wind, und dann beginnt er auf dem Bauche fortzukriechen, um ſich ſoviel als möglich dem Rudel zu nähern. Mein alter Erik verſtand dieſe Art ſich zu bewegen ſo meiſterhaft, daß ich, der ich mir einbildete, auch ſchleichen und kriechen zu können, wie ein be- ſchämter Schulbube vor ihm ſtand oder vielmehr lag: denn mit Ausnahme der Ferſengelenke bewegte ſich an dem ganzen Mann kein Glied, und dennoch glitt er, wenn auch höchſt langſam, immer und immer vorwärts. Wenn ein Waſſer dem Jäger in den Weg kommt, kann er natürlich nicht aus- weichen; aber da das Rinnſal etwas vertieft iſt, kommt er auch darüber hinweg. Das Gewehr wird über den Nacken gelegt, ſo daß Schloß und Mündung ſicher über das Waſſer kommen, das Pulver- horn ſteckt er zwiſchen Hemd und Bruſt; ob das Uebrige naß wird, kümmert den Mann natürlich nicht — und ſo läuft er auf allen Vieren durch den Wildbach: — wir haben es auch gethan. Klei- nere Graben werden ohne weitere Umſtände durchkrochen; denn ſchon die Renthierflechten ſind ſo feucht, daß der kriechende Jäger auf der ganzen Vorderſeite eben ſo naß wird, als ob er ſich im Waſſer gebadet hätte. Derart nähert man ſich mehr und mehr dem Rudel und iſt ſehr froh, wenn man näher als zweihundert Schritte an daſſelbe herankommt. Die meiſten norwegiſchen Jäger ſchießen nicht aus bedeutender Entfernung und können Dies, der geringen Güte ihrer Waffen halber, auch nicht thun; ver- möchten ſie aber aus einer Entfernung von dreihundert Schritten mit Sicherheit zu ſchießen, ſo würde gewiß jede Jagd ihnen eine Beute bieten; denn bis zu dieſer Entfernung laſſen die Renthiere einen geſchickten Jäger regelmäßig an ſich herankriechen. Sind nun Steine in der Nähe, ſo ſetzt der Kriechende ſeinen Weg fort, ſelbſtverſtändlich ſo, daß er immer einen größeren Stein zwiſchen ſich und dem Leitthier hat, alſo gedeckt wird. So kann es kommen, daß er bis auf 120 Schritte an das Rudel heranſchleicht und dann ſeine alte, erprobte Büchſe mit Sicherheit zu brauchen vermag. Er legt bedächtig auf einem Steine auf, zielt lange und ſorgfältig und feuert dann nach dem beſten Bock des Rudels hin, falls dieſer ſich ihm günſtig geſtellt hat. Nach meiner Erfahrung iſt das Rudel nach dem erſten Schuß ſo verblüfft, daß es noch eine geraume Zeit verwundert ſtehen bleibt; erſt nachdem es ſich von der Gefahr vollſtändig überzeugt hat, wird es flüchtig. Dieſe Beobachtungen haben auch die norwegiſchen Jäger gemacht, und deshalb gehen ſie gern ſelbander oder zu Dreien und Vieren auf die Jagd, ſchleichen zugleich nach einem Rudel hin, zielen verabredetermaßen auf beſtimmte Thiere und laſſen einen zuerſt feuern; dann ſchießen auch ſie. Jch bin feſt überzeugt, daß Jäger, welche mit guten, ſicheren Doppelbüchſen be- waffnet ſind, aus ein und demſelben Rudel fünf bis ſechs Renthiere wegſchießen können, wenn ſie ſonſt ſich geſchickt angeſchlichen haben und regungslos hinter den Steinen liegen bleiben. Die ge- ringſte Bewegung freilich ſcheucht das Rudel augenblicklich in die wildeſte Flucht. Von dieſer waidmänniſchen Jagdart iſt die, welche die Sibirier und Amerikaner betreiben, aller- dings ſehr verſchieden. „Die Jukahiren und die übrigen Bewohner der Gegend längs dem Aniuj- fluſſe in Sibirien,‟ ſagt von Wrangel, „hängen ganz von dem Renthier ab, welches hier, wie in Lappland, faſt ausſchließlich Nahrung, Kleidung, Fuhrwerk, Wohnung liefert. Die Renthierjagd entſcheidet, ob Hungersnoth oder Wohlleben herrſchen wird, und die Zeit der Renthierzüge iſt hier der wichtigſte Abſchnitt des Jahres. Wenn die Thiere auf ihren regelmäßigen Wanderungen zu den Flüſſen kommen und ſich anſchicken, über dieſelben hinwegzuſchwimmen, ſtürzen die Jäger in ihren kleinen Kähnen pfeilſchnell hinter Büſchen, Geſteinen ꝛc., wo ſie ſich bis dahin verborgen gehalten, hervor, umringen den Zug und ſuchen ihn aufzuhalten, während zwei oder drei der gewandteſten unter ihnen mit einem kurzen Spieße bewaffnet in den ſchwimmenden Haufen hineinfahren und in unglaublich kurzer Zeit eine große Menge tödten oder doch ſo ſchwer verwunden, daß ſie höchſtens das Ufer erreichen, wo ſie den dort wartenden Weibern, Mädchen und Kindern in die Hände fallen. Die Jagd iſt übrigens mit großer Gefahr verbunden. Jn dem ungeheuren Gewühl der dicht unter einander ſchwimmenden Thiere iſt der kleine, leichte Kahn ohnehin jeden Augenblick dem Umwerfen

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/465>, abgerufen am 23.11.2024.