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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Hirsche. -- Das Renthier.
der Mücken ziehen sich die wilden Renthiere eben einfach nach den Gletschern und Schneefeldern hin-
auf, welche sie ohnehin so lieben, daß sie mindestens ein paar Stunden des Tages auf ihnen ruhend
verweilen; im Herbst, Winter und Frühling kommen sie weiter an den Bergen herab.

Alle wilden Renthiere lieben die Geselligkeit in hohem Grade. Jhre Rudel sind viel stärker,
als die von anderem Hirschwild, und erinnern in mancher Hinsicht an die ungeheuren Herden, welche
die Antilopen in Südafrika bilden. Jch sah freilich nur Rudel von 4 bis 52 Stück auf dem
Dovre; im Winter kommen aber, wie mich mein erfahrener Jäger versicherte, solche von drei- bis
vierhundert Stück vor. Einzelne Renthiere trifft man nur höchst selten an; es sind dies blos alte
Hirsche, welche von dem übrigen Rudel abgeschlagen worden sind.

Die Renthiere eignen sich ganz vortrefflich, jene nördlichen Länder zu bewohnen, welche im
Sommer eigentlich nur ein Morast und im Winter nur ein einziges Schneefeld sind. Jhre breiten
Hufe erlauben ihnen ebensowohl über die sumpfigen Stellen und die Schneedecke hinwegzugehen, wie
an den Halden umherzuklettern. Der Gang des Renthieres ist ein ziemlich schneller Schritt oder ein
rascher Trott. So flüchtig wie unser Edelhirsch wird es selbst dann nicht, wenn eines aus der Herde
zusammengeschossen worden ist und alle übrigen in die höchste Angst gerathen. Dabei hört man fast
bei jedem Tritt ein eigenthümliches Knistern, täuschend dem Geräusch vergleichbar, welches ein elektri-
scher Funke hervorbringt. Jch habe mir große Mühe gegeben, die Ursache dieses Geräusches kennen
zu lernen und bin zahmen Renthieren stundenlang nachgekrochen und nachgegangen; ich habe auch
einige niederwerfen lassen und alle möglichen Beugungen ihrer Fußgelenke durchgemacht, um meiner
Sache sicher zu werden, bin aber noch heut so unklar, als ich es früher war. Nachdem ich das Thier
so genau als möglich längere Zeit beobachtet hatte, glaubte ich annehmen zu dürfen, daß das frag-
liche Geräusch von einem Zusammenschlagen des Geäfters herrühre, und wirklich konnte ich durch
Aneinanderreiben der Füße einen ganz ähnlichen Laut hervorbringen; allein die Renthiere, welche ich
in den Thiergärten beobachtete, belehrten mich, daß meine Ansicht falsch sei: denn sie bringen auch
dasselbe Knistern hervor, ohne daß sie einen Fuß von der Erde erheben; sie knistern, sobald sie sich,
auf allen vier Füßen feststehend, ein wenig nach vorn oder zur Seite beugen. Daß bei solchen Beu-
gungen das Geäfter nicht an die Hufe schlägt, glaube ich verbürgen zu können. Und so bleibt blos
die Annahme übrig, daß der Laut im Jnnern des Gelenkes entsteht, ähnlich wie wenn wir einen
Finger anziehen, bis er knackt. Mit dieser Ansicht erklärt sich auch Dr. Weinland einverstanden;
diese Ansicht verfochten die Lappen, welche ich von Norwegern befragen ließ, und endlich auch die nor-
wegischen Forscher. Ein Versuch, den man gemacht hat, spricht freilich dagegen. Man wickelte näm-
lich einem Renthier Leinwand um Hufe und Afterklauen und vernahm dann nicht das geringste Ge-
räusch mehr; allein dieser Versuch würde immerhin noch nicht beweisen, daß, wie der betreffende
Naturforscher annahm, das Knacken nur ein Zusammenschlagen des Geäfters mit den Hufen sei;
denn solches Zusammenschlagen müßte man wahrnehmen können, und Dies ist nicht der Fall. Junge
Renthiere knistern übrigens nicht, und bei alten endet das sonderbare Geräusch, sobald sie im tiefen
und weichen Schnee waden.

Bei langsamem Gange über morastige Flächen breitet das Renthier seine Hufe soweit aus, daß
eine Fährte entsteht, welche weit mehr an die einer Kuh erinnert, als an die eines Hirsches, und in
gleicher Weise schreitet es auch über den Schnee, auf welchem es, sobald derselbe nur einigermaßen
sich gesetzt hat, nicht mehr einsinkt.

Das Schwimmen wird dem Ren sehr leicht; es setzt ohne weiteres über ziemlich breite Ströme,
und die Lappen treiben ganze Herden in den Fjords von einer Jnsel zur anderen. Die zahmen Ren-
thiere entschließen sich allerdings nur nach einigem Widerstreben in das Wasser zu gehen; die wilden
aber scheuen es gar nicht, und wenn sie flüchtig sind, gehen sie durch Dick und Dünn.

Alle höheren Sinne des Renthieres sind vortrefflich. Es wittert ganz ausgezeichnet, wie ich
mich wirklich überzeugt habe, bis auf fünf- bis sechshundert Schritte hin; es vernimmt mindestens
ebenso scharf, als der Hirsch, und äugt so gut, daß der Jäger alle Ursache hat, auch wenn er gegen

Die Hirſche. — Das Renthier.
der Mücken ziehen ſich die wilden Renthiere eben einfach nach den Gletſchern und Schneefeldern hin-
auf, welche ſie ohnehin ſo lieben, daß ſie mindeſtens ein paar Stunden des Tages auf ihnen ruhend
verweilen; im Herbſt, Winter und Frühling kommen ſie weiter an den Bergen herab.

Alle wilden Renthiere lieben die Geſelligkeit in hohem Grade. Jhre Rudel ſind viel ſtärker,
als die von anderem Hirſchwild, und erinnern in mancher Hinſicht an die ungeheuren Herden, welche
die Antilopen in Südafrika bilden. Jch ſah freilich nur Rudel von 4 bis 52 Stück auf dem
Dovre; im Winter kommen aber, wie mich mein erfahrener Jäger verſicherte, ſolche von drei- bis
vierhundert Stück vor. Einzelne Renthiere trifft man nur höchſt ſelten an; es ſind dies blos alte
Hirſche, welche von dem übrigen Rudel abgeſchlagen worden ſind.

Die Renthiere eignen ſich ganz vortrefflich, jene nördlichen Länder zu bewohnen, welche im
Sommer eigentlich nur ein Moraſt und im Winter nur ein einziges Schneefeld ſind. Jhre breiten
Hufe erlauben ihnen ebenſowohl über die ſumpfigen Stellen und die Schneedecke hinwegzugehen, wie
an den Halden umherzuklettern. Der Gang des Renthieres iſt ein ziemlich ſchneller Schritt oder ein
raſcher Trott. So flüchtig wie unſer Edelhirſch wird es ſelbſt dann nicht, wenn eines aus der Herde
zuſammengeſchoſſen worden iſt und alle übrigen in die höchſte Angſt gerathen. Dabei hört man faſt
bei jedem Tritt ein eigenthümliches Kniſtern, täuſchend dem Geräuſch vergleichbar, welches ein elektri-
ſcher Funke hervorbringt. Jch habe mir große Mühe gegeben, die Urſache dieſes Geräuſches kennen
zu lernen und bin zahmen Renthieren ſtundenlang nachgekrochen und nachgegangen; ich habe auch
einige niederwerfen laſſen und alle möglichen Beugungen ihrer Fußgelenke durchgemacht, um meiner
Sache ſicher zu werden, bin aber noch heut ſo unklar, als ich es früher war. Nachdem ich das Thier
ſo genau als möglich längere Zeit beobachtet hatte, glaubte ich annehmen zu dürfen, daß das frag-
liche Geräuſch von einem Zuſammenſchlagen des Geäfters herrühre, und wirklich konnte ich durch
Aneinanderreiben der Füße einen ganz ähnlichen Laut hervorbringen; allein die Renthiere, welche ich
in den Thiergärten beobachtete, belehrten mich, daß meine Anſicht falſch ſei: denn ſie bringen auch
daſſelbe Kniſtern hervor, ohne daß ſie einen Fuß von der Erde erheben; ſie kniſtern, ſobald ſie ſich,
auf allen vier Füßen feſtſtehend, ein wenig nach vorn oder zur Seite beugen. Daß bei ſolchen Beu-
gungen das Geäfter nicht an die Hufe ſchlägt, glaube ich verbürgen zu können. Und ſo bleibt blos
die Annahme übrig, daß der Laut im Jnnern des Gelenkes entſteht, ähnlich wie wenn wir einen
Finger anziehen, bis er knackt. Mit dieſer Anſicht erklärt ſich auch Dr. Weinland einverſtanden;
dieſe Anſicht verfochten die Lappen, welche ich von Norwegern befragen ließ, und endlich auch die nor-
wegiſchen Forſcher. Ein Verſuch, den man gemacht hat, ſpricht freilich dagegen. Man wickelte näm-
lich einem Renthier Leinwand um Hufe und Afterklauen und vernahm dann nicht das geringſte Ge-
räuſch mehr; allein dieſer Verſuch würde immerhin noch nicht beweiſen, daß, wie der betreffende
Naturforſcher annahm, das Knacken nur ein Zuſammenſchlagen des Geäfters mit den Hufen ſei;
denn ſolches Zuſammenſchlagen müßte man wahrnehmen können, und Dies iſt nicht der Fall. Junge
Renthiere kniſtern übrigens nicht, und bei alten endet das ſonderbare Geräuſch, ſobald ſie im tiefen
und weichen Schnee waden.

Bei langſamem Gange über moraſtige Flächen breitet das Renthier ſeine Hufe ſoweit aus, daß
eine Fährte entſteht, welche weit mehr an die einer Kuh erinnert, als an die eines Hirſches, und in
gleicher Weiſe ſchreitet es auch über den Schnee, auf welchem es, ſobald derſelbe nur einigermaßen
ſich geſetzt hat, nicht mehr einſinkt.

Das Schwimmen wird dem Ren ſehr leicht; es ſetzt ohne weiteres über ziemlich breite Ströme,
und die Lappen treiben ganze Herden in den Fjords von einer Jnſel zur anderen. Die zahmen Ren-
thiere entſchließen ſich allerdings nur nach einigem Widerſtreben in das Waſſer zu gehen; die wilden
aber ſcheuen es gar nicht, und wenn ſie flüchtig ſind, gehen ſie durch Dick und Dünn.

Alle höheren Sinne des Renthieres ſind vortrefflich. Es wittert ganz ausgezeichnet, wie ich
mich wirklich überzeugt habe, bis auf fünf- bis ſechshundert Schritte hin; es vernimmt mindeſtens
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[436/0462] Die Hirſche. — Das Renthier. der Mücken ziehen ſich die wilden Renthiere eben einfach nach den Gletſchern und Schneefeldern hin- auf, welche ſie ohnehin ſo lieben, daß ſie mindeſtens ein paar Stunden des Tages auf ihnen ruhend verweilen; im Herbſt, Winter und Frühling kommen ſie weiter an den Bergen herab. Alle wilden Renthiere lieben die Geſelligkeit in hohem Grade. Jhre Rudel ſind viel ſtärker, als die von anderem Hirſchwild, und erinnern in mancher Hinſicht an die ungeheuren Herden, welche die Antilopen in Südafrika bilden. Jch ſah freilich nur Rudel von 4 bis 52 Stück auf dem Dovre; im Winter kommen aber, wie mich mein erfahrener Jäger verſicherte, ſolche von drei- bis vierhundert Stück vor. Einzelne Renthiere trifft man nur höchſt ſelten an; es ſind dies blos alte Hirſche, welche von dem übrigen Rudel abgeſchlagen worden ſind. Die Renthiere eignen ſich ganz vortrefflich, jene nördlichen Länder zu bewohnen, welche im Sommer eigentlich nur ein Moraſt und im Winter nur ein einziges Schneefeld ſind. Jhre breiten Hufe erlauben ihnen ebenſowohl über die ſumpfigen Stellen und die Schneedecke hinwegzugehen, wie an den Halden umherzuklettern. Der Gang des Renthieres iſt ein ziemlich ſchneller Schritt oder ein raſcher Trott. So flüchtig wie unſer Edelhirſch wird es ſelbſt dann nicht, wenn eines aus der Herde zuſammengeſchoſſen worden iſt und alle übrigen in die höchſte Angſt gerathen. Dabei hört man faſt bei jedem Tritt ein eigenthümliches Kniſtern, täuſchend dem Geräuſch vergleichbar, welches ein elektri- ſcher Funke hervorbringt. Jch habe mir große Mühe gegeben, die Urſache dieſes Geräuſches kennen zu lernen und bin zahmen Renthieren ſtundenlang nachgekrochen und nachgegangen; ich habe auch einige niederwerfen laſſen und alle möglichen Beugungen ihrer Fußgelenke durchgemacht, um meiner Sache ſicher zu werden, bin aber noch heut ſo unklar, als ich es früher war. Nachdem ich das Thier ſo genau als möglich längere Zeit beobachtet hatte, glaubte ich annehmen zu dürfen, daß das frag- liche Geräuſch von einem Zuſammenſchlagen des Geäfters herrühre, und wirklich konnte ich durch Aneinanderreiben der Füße einen ganz ähnlichen Laut hervorbringen; allein die Renthiere, welche ich in den Thiergärten beobachtete, belehrten mich, daß meine Anſicht falſch ſei: denn ſie bringen auch daſſelbe Kniſtern hervor, ohne daß ſie einen Fuß von der Erde erheben; ſie kniſtern, ſobald ſie ſich, auf allen vier Füßen feſtſtehend, ein wenig nach vorn oder zur Seite beugen. Daß bei ſolchen Beu- gungen das Geäfter nicht an die Hufe ſchlägt, glaube ich verbürgen zu können. Und ſo bleibt blos die Annahme übrig, daß der Laut im Jnnern des Gelenkes entſteht, ähnlich wie wenn wir einen Finger anziehen, bis er knackt. Mit dieſer Anſicht erklärt ſich auch Dr. Weinland einverſtanden; dieſe Anſicht verfochten die Lappen, welche ich von Norwegern befragen ließ, und endlich auch die nor- wegiſchen Forſcher. Ein Verſuch, den man gemacht hat, ſpricht freilich dagegen. Man wickelte näm- lich einem Renthier Leinwand um Hufe und Afterklauen und vernahm dann nicht das geringſte Ge- räuſch mehr; allein dieſer Verſuch würde immerhin noch nicht beweiſen, daß, wie der betreffende Naturforſcher annahm, das Knacken nur ein Zuſammenſchlagen des Geäfters mit den Hufen ſei; denn ſolches Zuſammenſchlagen müßte man wahrnehmen können, und Dies iſt nicht der Fall. Junge Renthiere kniſtern übrigens nicht, und bei alten endet das ſonderbare Geräuſch, ſobald ſie im tiefen und weichen Schnee waden. Bei langſamem Gange über moraſtige Flächen breitet das Renthier ſeine Hufe ſoweit aus, daß eine Fährte entſteht, welche weit mehr an die einer Kuh erinnert, als an die eines Hirſches, und in gleicher Weiſe ſchreitet es auch über den Schnee, auf welchem es, ſobald derſelbe nur einigermaßen ſich geſetzt hat, nicht mehr einſinkt. Das Schwimmen wird dem Ren ſehr leicht; es ſetzt ohne weiteres über ziemlich breite Ströme, und die Lappen treiben ganze Herden in den Fjords von einer Jnſel zur anderen. Die zahmen Ren- thiere entſchließen ſich allerdings nur nach einigem Widerſtreben in das Waſſer zu gehen; die wilden aber ſcheuen es gar nicht, und wenn ſie flüchtig ſind, gehen ſie durch Dick und Dünn. Alle höheren Sinne des Renthieres ſind vortrefflich. Es wittert ganz ausgezeichnet, wie ich mich wirklich überzeugt habe, bis auf fünf- bis ſechshundert Schritte hin; es vernimmt mindeſtens ebenſo ſcharf, als der Hirſch, und äugt ſo gut, daß der Jäger alle Urſache hat, auch wenn er gegen

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/462>, abgerufen am 23.11.2024.