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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die eigentlichen Mäuse.
Paris erschlug man während vier Wochen in einem einzigen Schlachthause 16,000 Stück, und in
einer Abdeckerei in der Nähe dieser Hauptstadt verzehrten sie binnen einer einzigen Nacht 35 Pferde-
leichen bis auf die Knochen. Sobald sie merken, daß der Mensch ihnen gegenüber ohnmächtig ist,
nimmt ihre Frechheit in wahrhaft erstaunlicher Weise zu; und wenn man sich nicht halb zu Tode
ärgern möchte über die nichtswürdigen Thiere: man könnte versucht sein, über ihre alles Maß über-
schreitende Frechheit zu lachen. Während meiner Knabenzeit hatten wir in unserer baufälligen Pfarr-
wohnung einmal einige Jahre lang keine Katzen, welche auf Ratten gingen, sondern nur schlechte,
verwöhnte, welche höchstens einer Maus den Garaus zu machen wagten. Da vermehrten sich die
Ratten derart, daß wir nirgends mehr Ruhe und Rast vor ihnen hatten. Wenn wir mittags auf
dem Vorsale speisten, kamen sie ganz lustig die Treppe herabspaziert bis dicht an unseren Tisch heran
und sahen, ob sie nicht Etwas wegnehmen könnten. Standen wir auf, um sie zu vertreiben, so
rannten sie zwar weg, waren aber im Augenblick wieder da und begannen das alte Spiel von neuem.
Rachts rasselte es unter allen Dächern und unterm Fußboden, als ob ein wildes Heer in Bewegung
wäre. Jm ganzen Hause spukte es. Das waren Hausratten, also noch immer die beste Sorte
dieses Ungeziefers; denn die Wanderratten treiben's noch viel schlimmer. Las Cases erzählt, daß Na-
poleon am 27. Juni 1816 nebst seinen Gefährten ohne Frühstück bleiben mußte, weil die Ratten in der
vergangenen Nacht in die Küche eingedrungen waren und Alles fortgeschleppt hatten. Sie waren
dort in großer Menge vorhanden, sehr böse und außerordentlich unverschämt. Gewöhnlich brauchten
sie nur wenige Tage, um die Mauern und Breterwände der armseligen Wohnung des großen Kaisers
zu durchnagen. Während der Mahlzeit Napoleons kamen sie in den Saal, und nach dem Essen
wurde förmlich Krieg mit ihnen geführt. Als der Kaiser einst abends seinen Hut wegnehmen wollte,
sprang eine große Ratte aus diesem heraus. Die Stallleute wollten gern Federvieh halten,
mußten aber darauf verzichten, weil die Ratten es wegfraßen. Sie holten das Geflügel ohne weiteres
nachts sogar von den Bäumen herunter, auf welchen es schlief.

Namentlich die Seeleute sind oft recht übel daran. Es gibt kein größeres Schiff ohne Ratten.
Auf den alten Fahrzeugen sind sie nicht auszurotten, und die neuen besetzen sie augenblicklich, sobald
dieselben ihre erste Ladung einnehmen. Auf langen Seereisen nun vermehren sich die Ratten, zumal,
wenn sie genug zu fressen haben, in bedeutender Menge, und dann ist kaum auf dem Schiffe zu bleiben.
Als Kane's Schiff bei seiner Polarreise in der Nähe des achtzigsten Breitengrades festgefroren war,
hatten sich die Ratten so vermehrt, daß sie fürchterlichen Schaden thaten. Endlich beschloß man, sie zu
Tode zu räuchern. Man schloß alle Luken und brannte ein Gemisch von Schwefel, Leder und Arsenik
unten im Schiffe an. Die Mannschaft brachte, um sich von dieser Plage zu befreien, die kalte Nacht
des letzten Septembers auf dem Deck zu. Am nächsten Morgen sah man, daß dieses furchtbare Mittel
gar Nichts geholfen hatte. Die Ratten waren noch munter. Jetzt brannte man eine Menge von Holz-
kohlen an und gedachte, die Thiere durch das sich entwickelnde Gas zu vergiften. Jn kurzer Zeit war
auch der geschlossene Raum so stark mit Gas erfüllt, daß zwei Leute, welche sich unvorsichtiger Weise
hinabgewagt hatten, sofort besinnungslos zu Boden fielen und nur mit großer Mühe aufs Deck gebracht
werden konnten. Eine hinabgesenkte Laterne verlosch augenblicklich; allein plötzlich gerieth an einer an-
deren Stelle des Fahrzeugs ein Kohlenvorrath und mit ihm ein Theil des Schiffes in Glühen, und nur
mit der größten Anstrengung, ja mit wirklicher Lebensgefahr des Schiffsführers, gelang es, das Feuer
zu löschen. Am folgenden Tage fand man blos 28 Rattenleichen, und die Ueberlebenden vermehrten
sich bis zum nächsten Winter in so großer Menge, daß man Nichts mehr vor ihnen retten konnte. Sie
zerfraßen die Pelze, die Kleider, die Schuhe; sie nisteten sich in die Betten, zwischen die Decken und
Handschuhe ein, nahmen Herberge in Mützen und Vorrathskisten, verzehrten die Vorräthe und wichen
allen Nachstellungen mit großer List und Schlauheit aus. Man verfiel auf ein neues Mittel. Der
klügste und tapferste Hund wurde in ihre eigentliche Herberge, in den Schiffsraum hinabgelassen, um
dort Ordnung zu stiften; aber bald verrieth das jämmerliche Heulen des Thieres, daß nicht er über die
Ratten, sondern sie über ihn Herr wurden. Man zog ihn heraus und fand, daß die Ratten ihm die

Die eigentlichen Mäuſe.
Paris erſchlug man während vier Wochen in einem einzigen Schlachthauſe 16,000 Stück, und in
einer Abdeckerei in der Nähe dieſer Hauptſtadt verzehrten ſie binnen einer einzigen Nacht 35 Pferde-
leichen bis auf die Knochen. Sobald ſie merken, daß der Menſch ihnen gegenüber ohnmächtig iſt,
nimmt ihre Frechheit in wahrhaft erſtaunlicher Weiſe zu; und wenn man ſich nicht halb zu Tode
ärgern möchte über die nichtswürdigen Thiere: man könnte verſucht ſein, über ihre alles Maß über-
ſchreitende Frechheit zu lachen. Während meiner Knabenzeit hatten wir in unſerer baufälligen Pfarr-
wohnung einmal einige Jahre lang keine Katzen, welche auf Ratten gingen, ſondern nur ſchlechte,
verwöhnte, welche höchſtens einer Maus den Garaus zu machen wagten. Da vermehrten ſich die
Ratten derart, daß wir nirgends mehr Ruhe und Raſt vor ihnen hatten. Wenn wir mittags auf
dem Vorſale ſpeiſten, kamen ſie ganz luſtig die Treppe herabſpaziert bis dicht an unſeren Tiſch heran
und ſahen, ob ſie nicht Etwas wegnehmen könnten. Standen wir auf, um ſie zu vertreiben, ſo
rannten ſie zwar weg, waren aber im Augenblick wieder da und begannen das alte Spiel von neuem.
Rachts raſſelte es unter allen Dächern und unterm Fußboden, als ob ein wildes Heer in Bewegung
wäre. Jm ganzen Hauſe ſpukte es. Das waren Hausratten, alſo noch immer die beſte Sorte
dieſes Ungeziefers; denn die Wanderratten treiben’s noch viel ſchlimmer. Las Caſes erzählt, daß Na-
poleon am 27. Juni 1816 nebſt ſeinen Gefährten ohne Frühſtück bleiben mußte, weil die Ratten in der
vergangenen Nacht in die Küche eingedrungen waren und Alles fortgeſchleppt hatten. Sie waren
dort in großer Menge vorhanden, ſehr böſe und außerordentlich unverſchämt. Gewöhnlich brauchten
ſie nur wenige Tage, um die Mauern und Breterwände der armſeligen Wohnung des großen Kaiſers
zu durchnagen. Während der Mahlzeit Napoleons kamen ſie in den Saal, und nach dem Eſſen
wurde förmlich Krieg mit ihnen geführt. Als der Kaiſer einſt abends ſeinen Hut wegnehmen wollte,
ſprang eine große Ratte aus dieſem heraus. Die Stallleute wollten gern Federvieh halten,
mußten aber darauf verzichten, weil die Ratten es wegfraßen. Sie holten das Geflügel ohne weiteres
nachts ſogar von den Bäumen herunter, auf welchen es ſchlief.

Namentlich die Seeleute ſind oft recht übel daran. Es gibt kein größeres Schiff ohne Ratten.
Auf den alten Fahrzeugen ſind ſie nicht auszurotten, und die neuen beſetzen ſie augenblicklich, ſobald
dieſelben ihre erſte Ladung einnehmen. Auf langen Seereiſen nun vermehren ſich die Ratten, zumal,
wenn ſie genug zu freſſen haben, in bedeutender Menge, und dann iſt kaum auf dem Schiffe zu bleiben.
Als Kane’s Schiff bei ſeiner Polarreiſe in der Nähe des achtzigſten Breitengrades feſtgefroren war,
hatten ſich die Ratten ſo vermehrt, daß ſie fürchterlichen Schaden thaten. Endlich beſchloß man, ſie zu
Tode zu räuchern. Man ſchloß alle Luken und brannte ein Gemiſch von Schwefel, Leder und Arſenik
unten im Schiffe an. Die Mannſchaft brachte, um ſich von dieſer Plage zu befreien, die kalte Nacht
des letzten Septembers auf dem Deck zu. Am nächſten Morgen ſah man, daß dieſes furchtbare Mittel
gar Nichts geholfen hatte. Die Ratten waren noch munter. Jetzt brannte man eine Menge von Holz-
kohlen an und gedachte, die Thiere durch das ſich entwickelnde Gas zu vergiften. Jn kurzer Zeit war
auch der geſchloſſene Raum ſo ſtark mit Gas erfüllt, daß zwei Leute, welche ſich unvorſichtiger Weiſe
hinabgewagt hatten, ſofort beſinnungslos zu Boden fielen und nur mit großer Mühe aufs Deck gebracht
werden konnten. Eine hinabgeſenkte Laterne verloſch augenblicklich; allein plötzlich gerieth an einer an-
deren Stelle des Fahrzeugs ein Kohlenvorrath und mit ihm ein Theil des Schiffes in Glühen, und nur
mit der größten Anſtrengung, ja mit wirklicher Lebensgefahr des Schiffsführers, gelang es, das Feuer
zu löſchen. Am folgenden Tage fand man blos 28 Rattenleichen, und die Ueberlebenden vermehrten
ſich bis zum nächſten Winter in ſo großer Menge, daß man Nichts mehr vor ihnen retten konnte. Sie
zerfraßen die Pelze, die Kleider, die Schuhe; ſie niſteten ſich in die Betten, zwiſchen die Decken und
Handſchuhe ein, nahmen Herberge in Mützen und Vorrathskiſten, verzehrten die Vorräthe und wichen
allen Nachſtellungen mit großer Liſt und Schlauheit aus. Man verfiel auf ein neues Mittel. Der
klügſte und tapferſte Hund wurde in ihre eigentliche Herberge, in den Schiffsraum hinabgelaſſen, um
dort Ordnung zu ſtiften; aber bald verrieth das jämmerliche Heulen des Thieres, daß nicht er über die
Ratten, ſondern ſie über ihn Herr wurden. Man zog ihn heraus und fand, daß die Ratten ihm die

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[122/0136] Die eigentlichen Mäuſe. Paris erſchlug man während vier Wochen in einem einzigen Schlachthauſe 16,000 Stück, und in einer Abdeckerei in der Nähe dieſer Hauptſtadt verzehrten ſie binnen einer einzigen Nacht 35 Pferde- leichen bis auf die Knochen. Sobald ſie merken, daß der Menſch ihnen gegenüber ohnmächtig iſt, nimmt ihre Frechheit in wahrhaft erſtaunlicher Weiſe zu; und wenn man ſich nicht halb zu Tode ärgern möchte über die nichtswürdigen Thiere: man könnte verſucht ſein, über ihre alles Maß über- ſchreitende Frechheit zu lachen. Während meiner Knabenzeit hatten wir in unſerer baufälligen Pfarr- wohnung einmal einige Jahre lang keine Katzen, welche auf Ratten gingen, ſondern nur ſchlechte, verwöhnte, welche höchſtens einer Maus den Garaus zu machen wagten. Da vermehrten ſich die Ratten derart, daß wir nirgends mehr Ruhe und Raſt vor ihnen hatten. Wenn wir mittags auf dem Vorſale ſpeiſten, kamen ſie ganz luſtig die Treppe herabſpaziert bis dicht an unſeren Tiſch heran und ſahen, ob ſie nicht Etwas wegnehmen könnten. Standen wir auf, um ſie zu vertreiben, ſo rannten ſie zwar weg, waren aber im Augenblick wieder da und begannen das alte Spiel von neuem. Rachts raſſelte es unter allen Dächern und unterm Fußboden, als ob ein wildes Heer in Bewegung wäre. Jm ganzen Hauſe ſpukte es. Das waren Hausratten, alſo noch immer die beſte Sorte dieſes Ungeziefers; denn die Wanderratten treiben’s noch viel ſchlimmer. Las Caſes erzählt, daß Na- poleon am 27. Juni 1816 nebſt ſeinen Gefährten ohne Frühſtück bleiben mußte, weil die Ratten in der vergangenen Nacht in die Küche eingedrungen waren und Alles fortgeſchleppt hatten. Sie waren dort in großer Menge vorhanden, ſehr böſe und außerordentlich unverſchämt. Gewöhnlich brauchten ſie nur wenige Tage, um die Mauern und Breterwände der armſeligen Wohnung des großen Kaiſers zu durchnagen. Während der Mahlzeit Napoleons kamen ſie in den Saal, und nach dem Eſſen wurde förmlich Krieg mit ihnen geführt. Als der Kaiſer einſt abends ſeinen Hut wegnehmen wollte, ſprang eine große Ratte aus dieſem heraus. Die Stallleute wollten gern Federvieh halten, mußten aber darauf verzichten, weil die Ratten es wegfraßen. Sie holten das Geflügel ohne weiteres nachts ſogar von den Bäumen herunter, auf welchen es ſchlief. Namentlich die Seeleute ſind oft recht übel daran. Es gibt kein größeres Schiff ohne Ratten. Auf den alten Fahrzeugen ſind ſie nicht auszurotten, und die neuen beſetzen ſie augenblicklich, ſobald dieſelben ihre erſte Ladung einnehmen. Auf langen Seereiſen nun vermehren ſich die Ratten, zumal, wenn ſie genug zu freſſen haben, in bedeutender Menge, und dann iſt kaum auf dem Schiffe zu bleiben. Als Kane’s Schiff bei ſeiner Polarreiſe in der Nähe des achtzigſten Breitengrades feſtgefroren war, hatten ſich die Ratten ſo vermehrt, daß ſie fürchterlichen Schaden thaten. Endlich beſchloß man, ſie zu Tode zu räuchern. Man ſchloß alle Luken und brannte ein Gemiſch von Schwefel, Leder und Arſenik unten im Schiffe an. Die Mannſchaft brachte, um ſich von dieſer Plage zu befreien, die kalte Nacht des letzten Septembers auf dem Deck zu. Am nächſten Morgen ſah man, daß dieſes furchtbare Mittel gar Nichts geholfen hatte. Die Ratten waren noch munter. Jetzt brannte man eine Menge von Holz- kohlen an und gedachte, die Thiere durch das ſich entwickelnde Gas zu vergiften. Jn kurzer Zeit war auch der geſchloſſene Raum ſo ſtark mit Gas erfüllt, daß zwei Leute, welche ſich unvorſichtiger Weiſe hinabgewagt hatten, ſofort beſinnungslos zu Boden fielen und nur mit großer Mühe aufs Deck gebracht werden konnten. Eine hinabgeſenkte Laterne verloſch augenblicklich; allein plötzlich gerieth an einer an- deren Stelle des Fahrzeugs ein Kohlenvorrath und mit ihm ein Theil des Schiffes in Glühen, und nur mit der größten Anſtrengung, ja mit wirklicher Lebensgefahr des Schiffsführers, gelang es, das Feuer zu löſchen. Am folgenden Tage fand man blos 28 Rattenleichen, und die Ueberlebenden vermehrten ſich bis zum nächſten Winter in ſo großer Menge, daß man Nichts mehr vor ihnen retten konnte. Sie zerfraßen die Pelze, die Kleider, die Schuhe; ſie niſteten ſich in die Betten, zwiſchen die Decken und Handſchuhe ein, nahmen Herberge in Mützen und Vorrathskiſten, verzehrten die Vorräthe und wichen allen Nachſtellungen mit großer Liſt und Schlauheit aus. Man verfiel auf ein neues Mittel. Der klügſte und tapferſte Hund wurde in ihre eigentliche Herberge, in den Schiffsraum hinabgelaſſen, um dort Ordnung zu ſtiften; aber bald verrieth das jämmerliche Heulen des Thieres, daß nicht er über die Ratten, ſondern ſie über ihn Herr wurden. Man zog ihn heraus und fand, daß die Ratten ihm die

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/136>, abgerufen am 26.11.2024.