bei der geringsten Veranlassung wieder aufspringen. Solche leichte Wunden kommen aber nur äußerst selten vor; denn gewöhnlich sind die Schläge, welche der Tiger ertheilt, tödlich.
Ein Tiger, welcher bei dem Marsche eines Regiments ein Kamel angriff, brach diesem mit einem Schlage den Schenkel. Ein anderer soll sogar einen Elefanten umgeworfen haben. Pferde, Rinder und Hirsche wagen gar keinen Widerstand, sondern ergeben sich, wie der Mensch, schreckerfüllt in das Unvermeidliche. Blos die muthigen männlichen Büffel gehen zuweilen auf den Tiger los und wissen ihm mit ihren tüchtigen Hörnern auch erfolgreich zu begeguen. Deshalb betrachten sich die indischen Viehhirten, welche auf Büffeln reiten, für ganz gesichert, während alle übrigen Reiter Dies nicht sind. Denn selbst auf die Elefanten springt der Tiger zuweilen und holt sich von dort einen Menschen herab.
Die Frechheit des furchtbarsten aller Raubthiere übersteigt alle Begriffe. Manche Engpässe durch waldreiche Schluchten sind berüchtigt wegen der Raubthaten des Tigers; Forbes versichert, daß ohne die große Furcht des Tigers vor dem Feuer kaum hier und da eine Verbindung im Lande möglich sein könne. Man reist in Jndien gewöhnlich des Nachts, der großen Hitze wegen, und da kommt es noch immer vor, daß der Tiger einen seiner kühnen Angriffe nicht nur wagt, sondern auch erfolgreich ausführt, ungeachtet der Menschenmenge, welche einen Reisetrupp bildet, und trotz der Fackelträger und Trommelschläger, welche das Raubthier durch Feuer und Geräusch zu schrecken suchen; nicht ein- mal die Truppen sind gesichert. Forbes erlebte es, daß in einer einzigen Nacht drei gut bewaffnete Schildwachen von den Tigern gefressen wurden. Die Nachzügler der Heere fallen dem Tiger regel- mäßig in Menge zur Beute. Ebenso wie unter Reisetrupps, dringt der Tiger in Dörfer, ja selbst in Städte ein und holt sich dort zuweilen am hellen lichten Tage einen Menschen weg. Hierdurch hat er an einigen Orten es wirklich dahin gebracht, daß ganze Dörfer ausgewandert sind oder andere sich blos durch beständig brennende Feuer und hohe Dornenhecken zu schützen vermögen. Aus einer einzigen Ortschaft haben die Tiger, wie Buchanan berichtet, binnen zwei Jahren achtzig Einwohner weggeschleppt und aufgefressen! Jn anderen Ortschaften hatten sie noch ärger aufgeräumt, die Uebrig- gebliebenen waren ausgewandert und hatten ihre Wohnplätze den Tigern überlassen, welche jetzt ihr Lager dort aufschlugen. Die Angriffe des Raubthieres geschehen so schnell und so plötzlich, daß an ein Ausweichen kaum zu denken ist, und die Uebrigbleibenden bemerken den Tiger gewöhnlich erst in dem Augenblicke, in welchem er seine unrettbar verlorne Beute bereits gefaßt und weggeschleppt hat. Dann ist das Nachsetzen meist vergeblich; denn wenn auch hier und da ein Mensch oder ein Thier dem Tiger wieder abgejagt wird, sind die Wunden, welche sie empfangen, derart, daß sie daran zu Grunde gehen. Man hat Beispiele, daß sich Leute, welche durch einen Tiger vom Pferde herab- gerissen worden waren, selbst von ihrem Räuber befreiten. So sprang ein Tiger mit einem furcht- baren Satze auf den Rücken eines Elefanten, riß dort einen Engländer aus dem Sattelstuhl, schleuderte ihn zur Erde herab und entfloh mit ihm. Zwar hatten alle Begleiter des Unglücklichen ihre Gewehre auf das fliehende Thier gerichtet, wagten aber nicht, zu schießen, weil sie befürchten mußten, anstatt des Raubthieres ihren Gefährten zu treffen, und mußten diesen seinem Schicksale überlassen. Und Dies geschah zu dessen Glück. Durch den hohen Sturz vom Elefanten und den entsetzlichen Schrecken besinnungslos, erwachte er, als ihm Dornen das Gesicht blutig rissen. Seine gefährliche Lage erkennend, hatte er Geistesgegenwart genug, eine in seinem Gürtel steckende Pistole hervorzuziehen und diese auf den Tiger abzuschießen. Der Schuß ging fehl, und sein Räuber biß nur noch heftiger zu. Der muthige Mann verlor jedoch noch immer seine Hoffnung nicht, sondern zog eine zweite Pistole und schoß diese auf das Schulterblatt des Raubthieres ab. Glücklicherweife traf die zweite Kugel das Herz des Tigers, welcher alsbald todt zur Erde stürzte. Die beiden Schüsse hatten seine Freunde ihm nachgezogen, und man fand den wackern Kämpen halb besinnungslos auf seinem Feinde liegend. Man konnte ihm bald die beste Pflege zu Theil werden lassen, und so kam er mit dem Leben davon. Nur ein lahmes Bein ist ihm zur Erinnerung an jenen gewagten und zweifelhaften Kampf geblieben.
Brehm, Thierleben. 15
Aufenthalt. Lebensart. Jagdweiſe. Kühnheit.
bei der geringſten Veranlaſſung wieder aufſpringen. Solche leichte Wunden kommen aber nur äußerſt ſelten vor; denn gewöhnlich ſind die Schläge, welche der Tiger ertheilt, tödlich.
Ein Tiger, welcher bei dem Marſche eines Regiments ein Kamel angriff, brach dieſem mit einem Schlage den Schenkel. Ein anderer ſoll ſogar einen Elefanten umgeworfen haben. Pferde, Rinder und Hirſche wagen gar keinen Widerſtand, ſondern ergeben ſich, wie der Menſch, ſchreckerfüllt in das Unvermeidliche. Blos die muthigen männlichen Büffel gehen zuweilen auf den Tiger los und wiſſen ihm mit ihren tüchtigen Hörnern auch erfolgreich zu begeguen. Deshalb betrachten ſich die indiſchen Viehhirten, welche auf Büffeln reiten, für ganz geſichert, während alle übrigen Reiter Dies nicht ſind. Denn ſelbſt auf die Elefanten ſpringt der Tiger zuweilen und holt ſich von dort einen Menſchen herab.
Die Frechheit des furchtbarſten aller Raubthiere überſteigt alle Begriffe. Manche Engpäſſe durch waldreiche Schluchten ſind berüchtigt wegen der Raubthaten des Tigers; Forbes verſichert, daß ohne die große Furcht des Tigers vor dem Feuer kaum hier und da eine Verbindung im Lande möglich ſein könne. Man reiſt in Jndien gewöhnlich des Nachts, der großen Hitze wegen, und da kommt es noch immer vor, daß der Tiger einen ſeiner kühnen Angriffe nicht nur wagt, ſondern auch erfolgreich ausführt, ungeachtet der Menſchenmenge, welche einen Reiſetrupp bildet, und trotz der Fackelträger und Trommelſchläger, welche das Raubthier durch Feuer und Geräuſch zu ſchrecken ſuchen; nicht ein- mal die Truppen ſind geſichert. Forbes erlebte es, daß in einer einzigen Nacht drei gut bewaffnete Schildwachen von den Tigern gefreſſen wurden. Die Nachzügler der Heere fallen dem Tiger regel- mäßig in Menge zur Beute. Ebenſo wie unter Reiſetrupps, dringt der Tiger in Dörfer, ja ſelbſt in Städte ein und holt ſich dort zuweilen am hellen lichten Tage einen Menſchen weg. Hierdurch hat er an einigen Orten es wirklich dahin gebracht, daß ganze Dörfer ausgewandert ſind oder andere ſich blos durch beſtändig brennende Feuer und hohe Dornenhecken zu ſchützen vermögen. Aus einer einzigen Ortſchaft haben die Tiger, wie Buchanan berichtet, binnen zwei Jahren achtzig Einwohner weggeſchleppt und aufgefreſſen! Jn anderen Ortſchaften hatten ſie noch ärger aufgeräumt, die Uebrig- gebliebenen waren ausgewandert und hatten ihre Wohnplätze den Tigern überlaſſen, welche jetzt ihr Lager dort aufſchlugen. Die Angriffe des Raubthieres geſchehen ſo ſchnell und ſo plötzlich, daß an ein Ausweichen kaum zu denken iſt, und die Uebrigbleibenden bemerken den Tiger gewöhnlich erſt in dem Augenblicke, in welchem er ſeine unrettbar verlorne Beute bereits gefaßt und weggeſchleppt hat. Dann iſt das Nachſetzen meiſt vergeblich; denn wenn auch hier und da ein Menſch oder ein Thier dem Tiger wieder abgejagt wird, ſind die Wunden, welche ſie empfangen, derart, daß ſie daran zu Grunde gehen. Man hat Beiſpiele, daß ſich Leute, welche durch einen Tiger vom Pferde herab- geriſſen worden waren, ſelbſt von ihrem Räuber befreiten. So ſprang ein Tiger mit einem furcht- baren Satze auf den Rücken eines Elefanten, riß dort einen Engländer aus dem Sattelſtuhl, ſchleuderte ihn zur Erde herab und entfloh mit ihm. Zwar hatten alle Begleiter des Unglücklichen ihre Gewehre auf das fliehende Thier gerichtet, wagten aber nicht, zu ſchießen, weil ſie befürchten mußten, anſtatt des Raubthieres ihren Gefährten zu treffen, und mußten dieſen ſeinem Schickſale überlaſſen. Und Dies geſchah zu deſſen Glück. Durch den hohen Sturz vom Elefanten und den entſetzlichen Schrecken beſinnungslos, erwachte er, als ihm Dornen das Geſicht blutig riſſen. Seine gefährliche Lage erkennend, hatte er Geiſtesgegenwart genug, eine in ſeinem Gürtel ſteckende Piſtole hervorzuziehen und dieſe auf den Tiger abzuſchießen. Der Schuß ging fehl, und ſein Räuber biß nur noch heftiger zu. Der muthige Mann verlor jedoch noch immer ſeine Hoffnung nicht, ſondern zog eine zweite Piſtole und ſchoß dieſe auf das Schulterblatt des Raubthieres ab. Glücklicherweife traf die zweite Kugel das Herz des Tigers, welcher alsbald todt zur Erde ſtürzte. Die beiden Schüſſe hatten ſeine Freunde ihm nachgezogen, und man fand den wackern Kämpen halb beſinnungslos auf ſeinem Feinde liegend. Man konnte ihm bald die beſte Pflege zu Theil werden laſſen, und ſo kam er mit dem Leben davon. Nur ein lahmes Bein iſt ihm zur Erinnerung an jenen gewagten und zweifelhaften Kampf geblieben.
Brehm, Thierleben. 15
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[225/0289]
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bei der geringſten Veranlaſſung wieder aufſpringen. Solche leichte Wunden kommen aber nur äußerſt
ſelten vor; denn gewöhnlich ſind die Schläge, welche der Tiger ertheilt, tödlich.
Ein Tiger, welcher bei dem Marſche eines Regiments ein Kamel angriff, brach dieſem mit
einem Schlage den Schenkel. Ein anderer ſoll ſogar einen Elefanten umgeworfen haben. Pferde,
Rinder und Hirſche wagen gar keinen Widerſtand, ſondern ergeben ſich, wie der Menſch, ſchreckerfüllt
in das Unvermeidliche. Blos die muthigen männlichen Büffel gehen zuweilen auf den Tiger los
und wiſſen ihm mit ihren tüchtigen Hörnern auch erfolgreich zu begeguen. Deshalb betrachten ſich die
indiſchen Viehhirten, welche auf Büffeln reiten, für ganz geſichert, während alle übrigen Reiter Dies
nicht ſind. Denn ſelbſt auf die Elefanten ſpringt der Tiger zuweilen und holt ſich von dort einen
Menſchen herab.
Die Frechheit des furchtbarſten aller Raubthiere überſteigt alle Begriffe. Manche Engpäſſe
durch waldreiche Schluchten ſind berüchtigt wegen der Raubthaten des Tigers; Forbes verſichert, daß
ohne die große Furcht des Tigers vor dem Feuer kaum hier und da eine Verbindung im Lande möglich
ſein könne. Man reiſt in Jndien gewöhnlich des Nachts, der großen Hitze wegen, und da kommt es
noch immer vor, daß der Tiger einen ſeiner kühnen Angriffe nicht nur wagt, ſondern auch erfolgreich
ausführt, ungeachtet der Menſchenmenge, welche einen Reiſetrupp bildet, und trotz der Fackelträger
und Trommelſchläger, welche das Raubthier durch Feuer und Geräuſch zu ſchrecken ſuchen; nicht ein-
mal die Truppen ſind geſichert. Forbes erlebte es, daß in einer einzigen Nacht drei gut bewaffnete
Schildwachen von den Tigern gefreſſen wurden. Die Nachzügler der Heere fallen dem Tiger regel-
mäßig in Menge zur Beute. Ebenſo wie unter Reiſetrupps, dringt der Tiger in Dörfer, ja ſelbſt
in Städte ein und holt ſich dort zuweilen am hellen lichten Tage einen Menſchen weg. Hierdurch hat
er an einigen Orten es wirklich dahin gebracht, daß ganze Dörfer ausgewandert ſind oder andere ſich
blos durch beſtändig brennende Feuer und hohe Dornenhecken zu ſchützen vermögen. Aus einer
einzigen Ortſchaft haben die Tiger, wie Buchanan berichtet, binnen zwei Jahren achtzig Einwohner
weggeſchleppt und aufgefreſſen! Jn anderen Ortſchaften hatten ſie noch ärger aufgeräumt, die Uebrig-
gebliebenen waren ausgewandert und hatten ihre Wohnplätze den Tigern überlaſſen, welche jetzt
ihr Lager dort aufſchlugen. Die Angriffe des Raubthieres geſchehen ſo ſchnell und ſo plötzlich, daß
an ein Ausweichen kaum zu denken iſt, und die Uebrigbleibenden bemerken den Tiger gewöhnlich erſt
in dem Augenblicke, in welchem er ſeine unrettbar verlorne Beute bereits gefaßt und weggeſchleppt
hat. Dann iſt das Nachſetzen meiſt vergeblich; denn wenn auch hier und da ein Menſch oder ein
Thier dem Tiger wieder abgejagt wird, ſind die Wunden, welche ſie empfangen, derart, daß ſie daran
zu Grunde gehen. Man hat Beiſpiele, daß ſich Leute, welche durch einen Tiger vom Pferde herab-
geriſſen worden waren, ſelbſt von ihrem Räuber befreiten. So ſprang ein Tiger mit einem furcht-
baren Satze auf den Rücken eines Elefanten, riß dort einen Engländer aus dem Sattelſtuhl,
ſchleuderte ihn zur Erde herab und entfloh mit ihm. Zwar hatten alle Begleiter des Unglücklichen
ihre Gewehre auf das fliehende Thier gerichtet, wagten aber nicht, zu ſchießen, weil ſie befürchten
mußten, anſtatt des Raubthieres ihren Gefährten zu treffen, und mußten dieſen ſeinem Schickſale
überlaſſen. Und Dies geſchah zu deſſen Glück. Durch den hohen Sturz vom Elefanten und den
entſetzlichen Schrecken beſinnungslos, erwachte er, als ihm Dornen das Geſicht blutig riſſen. Seine
gefährliche Lage erkennend, hatte er Geiſtesgegenwart genug, eine in ſeinem Gürtel ſteckende Piſtole
hervorzuziehen und dieſe auf den Tiger abzuſchießen. Der Schuß ging fehl, und ſein Räuber biß nur
noch heftiger zu. Der muthige Mann verlor jedoch noch immer ſeine Hoffnung nicht, ſondern zog
eine zweite Piſtole und ſchoß dieſe auf das Schulterblatt des Raubthieres ab. Glücklicherweife traf die
zweite Kugel das Herz des Tigers, welcher alsbald todt zur Erde ſtürzte. Die beiden Schüſſe hatten
ſeine Freunde ihm nachgezogen, und man fand den wackern Kämpen halb beſinnungslos auf ſeinem
Feinde liegend. Man konnte ihm bald die beſte Pflege zu Theil werden laſſen, und ſo kam er mit dem
Leben davon. Nur ein lahmes Bein iſt ihm zur Erinnerung an jenen gewagten und zweifelhaften
Kampf geblieben.
Brehm, Thierleben. 15
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/289>, abgerufen am 22.11.2024.
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