Der altbekannte Ausspruch: "Die Hand macht den Menschen leiblich zu Dem, was er ist," giebt allen Forschern, welche sich mit der Einreihung der Thiere in einer gewissen Ordnung befassen, das vollste Recht, diejenigen Säuger, mit deren Leben wir uns bisher beschäftigten, als die höchst- stehenden anzusehen und sie demgemäß an die Spitze unserer Klasse und damit an die Spitze aller übrigen zu stellen. Jhre Handbildung ist es, welche sie zu einem Ganzen einigt; die Aehnlichkeit der Hand- thiere mit den Menschen ist es, welche ihnen ihre Stellung sichert. Daß mit dieser Handbildung der ganze übrige Leibesbau im Einklange steht, haben wir verfolgen können: und so hat es uns nicht Wunder genommen, daß wir auch die kleinen, unschönen und gleichsam verzerrten oder miß- gestalteten Fledermäuse einer scheinbar so hohen Stellung würdig erachteten. Wohl keinem Natur- forscher wird es einfallen, zu behaupten, daß sie höher gebildete, vollendetere Thiere seien, als der Löwe, der Hund, das Pferd oder der Walfisch es sind; gleichwohl wird jeder ihnen gern eine so auffallende Voranstellung zugestehen: eben weil sie ihre Verwandtschaft mit den höchstgebildeten Thieren und mittelbar mit uns solcher Ehre würdig macht.
Es wird immer ein Mißgriff bleiben, wenn man ein "System" aufbaut, welches jedem einzelnen Thiere seine Stellung in fortlaufender Reihe anweisen soll. Ungleichmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten sind dabei gar nicht zu vermeiden. Nicht einmal innerhalb einer einzigen Familie würde man sämmt- liche Mitglieder derselben zu einer vollkommen gleichmäßigen Reihe ordnen können. Zwar finden sich fast überall vermittelnde Bindeglieder: allein oft gehörten gerade sie früheren Erdzeiträumen an und sind deshalb gegenwärtig doch nur in sehr untergeordneter Weise zu gebrauchen, wenn wir mit ihnen die Lücken ausfüllen wollen, welche überall sich finden. So bleibt dem ordnenden Thierkundigen nichts Anderes übrig, als mehrere Reihen aufzustellen, welche unter sich mehr oder weniger gleich- werthig sind, eine gewisse Zahl von Thieren in sich zusammenfassen und diese nach ihrer größern oder geringern Höhe der Ausbildung möglichst folgerecht ordnen lassen.
Eine solche Reihe haben wir in den nachstehend zu besprechenden Thieren vor uns. "Krallen- thiere" können sämmtliche in ihr vereinigten Säuger mit Fug und Recht genannt werden; denn die Bildung ihrer Nägel ist ihnen allen gemeinsam, selbstverständlich abgesehen von den Abänderungen, welche jede Leibesbildung unter einer so großen Menge verschiedenartiger Wesen erleiden muß. Die vier Gliedmaßen aller Krallenthiere ragen vollständig aus dem Körper hervor, ändern in ihrer Anlage aber sehr manchfaltig ab, je nachdem sie zum Gehen, Springen oder Flattern dienen sollen. Jmmer haben die Füße vollkommen bewegliche Zehen und diese Krallennägel, welche das Ende der Zehen nur theilweise bedecken, nicht aber vollständig einhufen, wie bei anderen Säugern, mit denen wir uns später beschäftigen werden. Die Zitzen der Krallenthiere liegen entweder blos auf der Brust oder blos
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Zweite Reihe. Krallenthiere (Unguiculata).
Der altbekannte Ausſpruch: „Die Hand macht den Menſchen leiblich zu Dem, was er iſt,‟ giebt allen Forſchern, welche ſich mit der Einreihung der Thiere in einer gewiſſen Ordnung befaſſen, das vollſte Recht, diejenigen Säuger, mit deren Leben wir uns bisher beſchäftigten, als die höchſt- ſtehenden anzuſehen und ſie demgemäß an die Spitze unſerer Klaſſe und damit an die Spitze aller übrigen zu ſtellen. Jhre Handbildung iſt es, welche ſie zu einem Ganzen einigt; die Aehnlichkeit der Hand- thiere mit den Menſchen iſt es, welche ihnen ihre Stellung ſichert. Daß mit dieſer Handbildung der ganze übrige Leibesbau im Einklange ſteht, haben wir verfolgen können: und ſo hat es uns nicht Wunder genommen, daß wir auch die kleinen, unſchönen und gleichſam verzerrten oder miß- geſtalteten Fledermäuſe einer ſcheinbar ſo hohen Stellung würdig erachteten. Wohl keinem Natur- forſcher wird es einfallen, zu behaupten, daß ſie höher gebildete, vollendetere Thiere ſeien, als der Löwe, der Hund, das Pferd oder der Walfiſch es ſind; gleichwohl wird jeder ihnen gern eine ſo auffallende Voranſtellung zugeſtehen: eben weil ſie ihre Verwandtſchaft mit den höchſtgebildeten Thieren und mittelbar mit uns ſolcher Ehre würdig macht.
Es wird immer ein Mißgriff bleiben, wenn man ein „Syſtem‟ aufbaut, welches jedem einzelnen Thiere ſeine Stellung in fortlaufender Reihe anweiſen ſoll. Ungleichmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten ſind dabei gar nicht zu vermeiden. Nicht einmal innerhalb einer einzigen Familie würde man ſämmt- liche Mitglieder derſelben zu einer vollkommen gleichmäßigen Reihe ordnen können. Zwar finden ſich faſt überall vermittelnde Bindeglieder: allein oft gehörten gerade ſie früheren Erdzeiträumen an und ſind deshalb gegenwärtig doch nur in ſehr untergeordneter Weiſe zu gebrauchen, wenn wir mit ihnen die Lücken ausfüllen wollen, welche überall ſich finden. So bleibt dem ordnenden Thierkundigen nichts Anderes übrig, als mehrere Reihen aufzuſtellen, welche unter ſich mehr oder weniger gleich- werthig ſind, eine gewiſſe Zahl von Thieren in ſich zuſammenfaſſen und dieſe nach ihrer größern oder geringern Höhe der Ausbildung möglichſt folgerecht ordnen laſſen.
Eine ſolche Reihe haben wir in den nachſtehend zu beſprechenden Thieren vor uns. „Krallen- thiere‟ können ſämmtliche in ihr vereinigten Säuger mit Fug und Recht genannt werden; denn die Bildung ihrer Nägel iſt ihnen allen gemeinſam, ſelbſtverſtändlich abgeſehen von den Abänderungen, welche jede Leibesbildung unter einer ſo großen Menge verſchiedenartiger Weſen erleiden muß. Die vier Gliedmaßen aller Krallenthiere ragen vollſtändig aus dem Körper hervor, ändern in ihrer Anlage aber ſehr manchfaltig ab, je nachdem ſie zum Gehen, Springen oder Flattern dienen ſollen. Jmmer haben die Füße vollkommen bewegliche Zehen und dieſe Krallennägel, welche das Ende der Zehen nur theilweiſe bedecken, nicht aber vollſtändig einhufen, wie bei anderen Säugern, mit denen wir uns ſpäter beſchäftigen werden. Die Zitzen der Krallenthiere liegen entweder blos auf der Bruſt oder blos
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giebt allen Forſchern, welche ſich mit der Einreihung der Thiere in einer gewiſſen Ordnung befaſſen,
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ſtehenden anzuſehen und ſie demgemäß an die Spitze unſerer Klaſſe und damit an die Spitze aller übrigen
zu ſtellen. Jhre Handbildung iſt es, welche ſie zu einem Ganzen einigt; die Aehnlichkeit der Hand-
thiere mit den Menſchen iſt es, welche ihnen ihre Stellung ſichert. Daß mit dieſer Handbildung
der ganze übrige Leibesbau im Einklange ſteht, haben wir verfolgen können: und ſo hat es uns
nicht Wunder genommen, daß wir auch die kleinen, unſchönen und gleichſam verzerrten oder miß-
geſtalteten Fledermäuſe einer ſcheinbar ſo hohen Stellung würdig erachteten. Wohl keinem Natur-
forſcher wird es einfallen, zu behaupten, daß ſie höher gebildete, vollendetere Thiere ſeien, als der
Löwe, der Hund, das Pferd oder der Walfiſch es ſind; gleichwohl wird jeder ihnen gern eine ſo
auffallende Voranſtellung zugeſtehen: eben weil ſie ihre Verwandtſchaft mit den höchſtgebildeten Thieren
und mittelbar mit uns ſolcher Ehre würdig macht.
Es wird immer ein Mißgriff bleiben, wenn man ein „Syſtem‟ aufbaut, welches jedem einzelnen
Thiere ſeine Stellung in fortlaufender Reihe anweiſen ſoll. Ungleichmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten
ſind dabei gar nicht zu vermeiden. Nicht einmal innerhalb einer einzigen Familie würde man ſämmt-
liche Mitglieder derſelben zu einer vollkommen gleichmäßigen Reihe ordnen können. Zwar finden ſich
faſt überall vermittelnde Bindeglieder: allein oft gehörten gerade ſie früheren Erdzeiträumen an und
ſind deshalb gegenwärtig doch nur in ſehr untergeordneter Weiſe zu gebrauchen, wenn wir mit ihnen
die Lücken ausfüllen wollen, welche überall ſich finden. So bleibt dem ordnenden Thierkundigen
nichts Anderes übrig, als mehrere Reihen aufzuſtellen, welche unter ſich mehr oder weniger gleich-
werthig ſind, eine gewiſſe Zahl von Thieren in ſich zuſammenfaſſen und dieſe nach ihrer größern oder
geringern Höhe der Ausbildung möglichſt folgerecht ordnen laſſen.
Eine ſolche Reihe haben wir in den nachſtehend zu beſprechenden Thieren vor uns. „Krallen-
thiere‟ können ſämmtliche in ihr vereinigten Säuger mit Fug und Recht genannt werden; denn die
Bildung ihrer Nägel iſt ihnen allen gemeinſam, ſelbſtverſtändlich abgeſehen von den Abänderungen,
welche jede Leibesbildung unter einer ſo großen Menge verſchiedenartiger Weſen erleiden muß. Die
vier Gliedmaßen aller Krallenthiere ragen vollſtändig aus dem Körper hervor, ändern in ihrer Anlage
aber ſehr manchfaltig ab, je nachdem ſie zum Gehen, Springen oder Flattern dienen ſollen. Jmmer
haben die Füße vollkommen bewegliche Zehen und dieſe Krallennägel, welche das Ende der Zehen
nur theilweiſe bedecken, nicht aber vollſtändig einhufen, wie bei anderen Säugern, mit denen wir uns
ſpäter beſchäftigen werden. Die Zitzen der Krallenthiere liegen entweder blos auf der Bruſt oder blos
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. [179]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/237>, abgerufen am 24.11.2024.
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