Unser reiches Schriftthum besitzt viele thierkundliche Werke von anerkannter Trefflichkeit, aber wenige, in denen die Lebenskunde der Thiere ausführlich behandelt ist. Man begnügt sich, zumal in den oberen Klassen, mit einer möglichst sorgfältigen Beschreibung des äußeren und inneren Thier- leibes, ja, man gibt sich zuweilen den Anschein, als halte man es für unvereinbar mit der Wissen- schaftlichkeit, dem Leben und Treiben der Thiere mehr Zeit und Raum zu gönnen als erforderlich, um zu beweisen, daß der in Rede stehende Gegenstand ein lebendiges, d. h. nicht blos ein fühlendes und bewegungsfähiges, sondern auch ein handelndes und wirkendes Wesen ist.
Die Ursachen dieses ebenso ungerechtfertigten als einseitigen Verfahrens sind unschwer zu erkennen. Unsere Meister der Thierkunde zieren die Hochschulen oder wirken an den öffentlichen Sammlungen. Hier haben sie eine für die Zergliederungs- und Systemkunde verlockende Menge von Stoff zur Verfügung, und wenn sie diesen Stoff wirklich bewältigen wollen, bleibt ihnen zur Beobachtung des Lebens der Thiere keine Zeit -- ganz abgesehen davon, daß zu solcher Beobachtung ein Jäger- und Wanderleben eine der ersten Bedingungen ist.
Wir danken gedachten Forschern überaus wichtige Aufschlüsse über den äußeren und inneren Bau des Thierleibes, und hierdurch Erklärung gewisser Lebensäußerungen; wir sehen in ihnen im- mer die das Ganze überblickenden und ordnenden Meister der Wissenschaft und sind geneigt, die jagenden und sammelnden Reisenden Jenen gegenüber als Gehilfen und Handlanger zu be- trachten, obgleich wir uns nicht verhehlen können, daß nur sie es sind, welche uns mit dem ganzen Thiere bekannt machen. Denn erst das lebende Thier ist ein "fühlendes und bewegungsfähiges" Wesen: das todte, ausgestopfte, in Weingeist aufbewahrte ist und bleibt immer nur ein Gegenstand.
Die Reisenden und die unsere Fluren jagend durchstreifenden Forscher also sind es, von denen wir Schilderungen des Thierlebens fordern müssen und fordern dürfen. Jhnen ist die Aufgabe geworden, vor Allem das lebende Thier ins Auge zu fassen; für die wissenschaftliche Behandlung des todten Thieres finden sich andere Kräfte: denn auch für das ersprießliche Gedeihen der Thier- kunde ist Theilung der Arbeit unerläßliche Bedingung. --
Solche Ansichten haben mich bestimmt, das vorliegende Buch zu schreiben. Durch Lehre und Vorbild meines unvergeßlichen Vaters bin ich von Jugend auf zur eigenen Beobachtung der Thiere veranlaßt worden und habe hierzu später, während eines langjährigen Wanderlebens im Norden und Süden sowie in meinem jetzigen Wirkungskreise, manche Gelegenheit gefunden, die vielen Anderen verschlossen blieb. Dessenungeachtet hielt ich meine Beobachtungen allein zu einer Veröffentlichung nicht für wichtig genug und glaubte deshalb, sie mit den Erfahrungen Anderer verschmelzen zu müssen. Hierdurch mußte die Arbeit das Gepräge einer allgemeinen Thierkunde erhalten, und da
Vorwort.
Unſer reiches Schriftthum beſitzt viele thierkundliche Werke von anerkannter Trefflichkeit, aber wenige, in denen die Lebenskunde der Thiere ausführlich behandelt iſt. Man begnügt ſich, zumal in den oberen Klaſſen, mit einer möglichſt ſorgfältigen Beſchreibung des äußeren und inneren Thier- leibes, ja, man gibt ſich zuweilen den Anſchein, als halte man es für unvereinbar mit der Wiſſen- ſchaftlichkeit, dem Leben und Treiben der Thiere mehr Zeit und Raum zu gönnen als erforderlich, um zu beweiſen, daß der in Rede ſtehende Gegenſtand ein lebendiges, d. h. nicht blos ein fühlendes und bewegungsfähiges, ſondern auch ein handelndes und wirkendes Weſen iſt.
Die Urſachen dieſes ebenſo ungerechtfertigten als einſeitigen Verfahrens ſind unſchwer zu erkennen. Unſere Meiſter der Thierkunde zieren die Hochſchulen oder wirken an den öffentlichen Sammlungen. Hier haben ſie eine für die Zergliederungs- und Syſtemkunde verlockende Menge von Stoff zur Verfügung, und wenn ſie dieſen Stoff wirklich bewältigen wollen, bleibt ihnen zur Beobachtung des Lebens der Thiere keine Zeit — ganz abgeſehen davon, daß zu ſolcher Beobachtung ein Jäger- und Wanderleben eine der erſten Bedingungen iſt.
Wir danken gedachten Forſchern überaus wichtige Aufſchlüſſe über den äußeren und inneren Bau des Thierleibes, und hierdurch Erklärung gewiſſer Lebensäußerungen; wir ſehen in ihnen im- mer die das Ganze überblickenden und ordnenden Meiſter der Wiſſenſchaft und ſind geneigt, die jagenden und ſammelnden Reiſenden Jenen gegenüber als Gehilfen und Handlanger zu be- trachten, obgleich wir uns nicht verhehlen können, daß nur ſie es ſind, welche uns mit dem ganzen Thiere bekannt machen. Denn erſt das lebende Thier iſt ein „fühlendes und bewegungsfähiges‟ Weſen: das todte, ausgeſtopfte, in Weingeiſt aufbewahrte iſt und bleibt immer nur ein Gegenſtand.
Die Reiſenden und die unſere Fluren jagend durchſtreifenden Forſcher alſo ſind es, von denen wir Schilderungen des Thierlebens fordern müſſen und fordern dürfen. Jhnen iſt die Aufgabe geworden, vor Allem das lebende Thier ins Auge zu faſſen; für die wiſſenſchaftliche Behandlung des todten Thieres finden ſich andere Kräfte: denn auch für das erſprießliche Gedeihen der Thier- kunde iſt Theilung der Arbeit unerläßliche Bedingung. —
Solche Anſichten haben mich beſtimmt, das vorliegende Buch zu ſchreiben. Durch Lehre und Vorbild meines unvergeßlichen Vaters bin ich von Jugend auf zur eigenen Beobachtung der Thiere veranlaßt worden und habe hierzu ſpäter, während eines langjährigen Wanderlebens im Norden und Süden ſowie in meinem jetzigen Wirkungskreiſe, manche Gelegenheit gefunden, die vielen Anderen verſchloſſen blieb. Deſſenungeachtet hielt ich meine Beobachtungen allein zu einer Veröffentlichung nicht für wichtig genug und glaubte deshalb, ſie mit den Erfahrungen Anderer verſchmelzen zu müſſen. Hierdurch mußte die Arbeit das Gepräge einer allgemeinen Thierkunde erhalten, und da
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Vorwort.
Unſer reiches Schriftthum beſitzt viele thierkundliche Werke von anerkannter Trefflichkeit, aber
wenige, in denen die Lebenskunde der Thiere ausführlich behandelt iſt. Man begnügt ſich, zumal
in den oberen Klaſſen, mit einer möglichſt ſorgfältigen Beſchreibung des äußeren und inneren Thier-
leibes, ja, man gibt ſich zuweilen den Anſchein, als halte man es für unvereinbar mit der Wiſſen-
ſchaftlichkeit, dem Leben und Treiben der Thiere mehr Zeit und Raum zu gönnen als
erforderlich, um zu beweiſen, daß der in Rede ſtehende Gegenſtand ein lebendiges, d. h. nicht blos
ein fühlendes und bewegungsfähiges, ſondern auch ein handelndes und wirkendes Weſen iſt.
Die Urſachen dieſes ebenſo ungerechtfertigten als einſeitigen Verfahrens ſind unſchwer zu
erkennen. Unſere Meiſter der Thierkunde zieren die Hochſchulen oder wirken an den öffentlichen
Sammlungen. Hier haben ſie eine für die Zergliederungs- und Syſtemkunde verlockende Menge
von Stoff zur Verfügung, und wenn ſie dieſen Stoff wirklich bewältigen wollen, bleibt ihnen zur
Beobachtung des Lebens der Thiere keine Zeit — ganz abgeſehen davon, daß zu ſolcher Beobachtung
ein Jäger- und Wanderleben eine der erſten Bedingungen iſt.
Wir danken gedachten Forſchern überaus wichtige Aufſchlüſſe über den äußeren und inneren
Bau des Thierleibes, und hierdurch Erklärung gewiſſer Lebensäußerungen; wir ſehen in ihnen im-
mer die das Ganze überblickenden und ordnenden Meiſter der Wiſſenſchaft und ſind geneigt,
die jagenden und ſammelnden Reiſenden Jenen gegenüber als Gehilfen und Handlanger zu be-
trachten, obgleich wir uns nicht verhehlen können, daß nur ſie es ſind, welche uns mit dem ganzen
Thiere bekannt machen. Denn erſt das lebende Thier iſt ein „fühlendes und bewegungsfähiges‟
Weſen: das todte, ausgeſtopfte, in Weingeiſt aufbewahrte iſt und bleibt immer nur ein Gegenſtand.
Die Reiſenden und die unſere Fluren jagend durchſtreifenden Forſcher alſo ſind es, von denen
wir Schilderungen des Thierlebens fordern müſſen und fordern dürfen. Jhnen iſt die Aufgabe
geworden, vor Allem das lebende Thier ins Auge zu faſſen; für die wiſſenſchaftliche Behandlung
des todten Thieres finden ſich andere Kräfte: denn auch für das erſprießliche Gedeihen der Thier-
kunde iſt Theilung der Arbeit unerläßliche Bedingung. —
Solche Anſichten haben mich beſtimmt, das vorliegende Buch zu ſchreiben. Durch Lehre und
Vorbild meines unvergeßlichen Vaters bin ich von Jugend auf zur eigenen Beobachtung der Thiere
veranlaßt worden und habe hierzu ſpäter, während eines langjährigen Wanderlebens im Norden und
Süden ſowie in meinem jetzigen Wirkungskreiſe, manche Gelegenheit gefunden, die vielen Anderen
verſchloſſen blieb. Deſſenungeachtet hielt ich meine Beobachtungen allein zu einer Veröffentlichung
nicht für wichtig genug und glaubte deshalb, ſie mit den Erfahrungen Anderer verſchmelzen zu
müſſen. Hierdurch mußte die Arbeit das Gepräge einer allgemeinen Thierkunde erhalten, und da
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. [VII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/17>, abgerufen am 22.11.2024.
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