Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite
3. Von der Arbeiterin zur Staatsbürgerin.

Alles Reden über die Befreiung der Frau aus ökonomischen,
rechtlichen und sittlichen Fesseln, in die alte Zeiten sie geschlagen
haben, wäre nichts als leere Phrase, wenn nicht die grausame Lehr-
meisterin Noth die große Emanzipatorin Arbeit gezeugt hätte.

So lange die Frauen an das Haus gefesselt blieben, war ihr
geistiger Gesichtskreis meist so eng wie seine Wände. Der Strom
der Welt brauste an ihnen vorüber, sie empfanden es kaum. Ehr-
furcht vor Krummstab und Szepter, fanatischer Autoritätsglaube,
Unterdrückung der eigenen Jndividualität, - das Alles wucherte
zwischen den Mauern eng umfriedeter Häuslichkeit unter dem Schutz
und der Leitung der Frauen. Gewaltsam mußten sie aus dieser
dumpfen Luft herausgerissen werden in den Sturm des Lebens-
kampfes, um ihre Kräfte zu prüfen und zu entwickeln, um selbst
fähig zu werden, an der Kulturarbeit der Menschheit mitzuwirken.

Die Masse der Frauen früherer Zeiten hatten keinerlei Jnteresse
an den politischen Vorgängen innerhalb ihres Vaterlandes. Erst
als sie eintraten in die Werkstatt und in die Fabrik, als die Männer
aus ihren Tänzern, Liebhabern und Eheherren ihre Arbeitsgenossen
wurden, als die gleiche Noth alle bedrückte, war für sie die Möglich-
keit vorhanden, über ihre Ursachen nachzudenken, den Mitteln zu
ihrer Abhilfe nachzusinnen und die Kräfte kennen zu lernen, die die
Welt bewegen. Aber ebenso wie sie durch die gemeinschaftliche
Arbeit erst in Berührung kamen mit dem öffentlichen Leben und
dadurch für politische Jnteressen erwachen konnten, ebenso konnten
sie nicht eher Anspruch erheben auf besondere Berücksichtigung durch
die Gesetzgebung, noch weniger auf die Anerkennung politischer
Gleichberechtigung, als bis sie entlassen waren aus dem alleinigen
Schutz des Hauses, und als selbstständige Menschen den Kampf ums
Dasein ebenso aufnahmen wie die Männer.

Heute haben die Frauen in fast allen Berufszweigen Eingang
gefunden. Nicht nur, daß alle alten Frauenberufe ihnen erhalten
blieben, - nur daß an Stelle des häuslichen Spinnrads die
Spinningjenny der Fabriken, an Stelle des primitiven Webstuhls
der Selfaktor trat; die vier Stricknadeln der fleißigen Hausfrau
durch den Strumpfwirkerstuhl, die kunstvolle Nadelarbeit der
Spitzennäherin durch die Bobbinetmaschine ersetzt wurde, und auf
dem ganzen Gebiet der Bekleidungsindustrie durch die verschieden-
artigsten Nähmaschinen die größten Veränderungen in Bezug auf
Arbeitsweisen und Arbeitsbedingungen hervorgerufen wurden, -
es eröffneten sich ihnen fast alljährlich neue. Jn allem beinahe, was
uns umgiebt, was unser Leben schmücken und erhalten, unseren Geist
bilden und erfreuen hilft, steckt Frauenarbeit. Sie spinnen, weben
und nähen nicht nur, durch Frauenhände gingen die Ziegel des

3. Von der Arbeiterin zur Staatsbürgerin.

Alles Reden über die Befreiung der Frau aus ökonomischen,
rechtlichen und sittlichen Fesseln, in die alte Zeiten sie geschlagen
haben, wäre nichts als leere Phrase, wenn nicht die grausame Lehr-
meisterin Noth die große Emanzipatorin Arbeit gezeugt hätte.

So lange die Frauen an das Haus gefesselt blieben, war ihr
geistiger Gesichtskreis meist so eng wie seine Wände. Der Strom
der Welt brauste an ihnen vorüber, sie empfanden es kaum. Ehr-
furcht vor Krummstab und Szepter, fanatischer Autoritätsglaube,
Unterdrückung der eigenen Jndividualität, – das Alles wucherte
zwischen den Mauern eng umfriedeter Häuslichkeit unter dem Schutz
und der Leitung der Frauen. Gewaltsam mußten sie aus dieser
dumpfen Luft herausgerissen werden in den Sturm des Lebens-
kampfes, um ihre Kräfte zu prüfen und zu entwickeln, um selbst
fähig zu werden, an der Kulturarbeit der Menschheit mitzuwirken.

Die Masse der Frauen früherer Zeiten hatten keinerlei Jnteresse
an den politischen Vorgängen innerhalb ihres Vaterlandes. Erst
als sie eintraten in die Werkstatt und in die Fabrik, als die Männer
aus ihren Tänzern, Liebhabern und Eheherren ihre Arbeitsgenossen
wurden, als die gleiche Noth alle bedrückte, war für sie die Möglich-
keit vorhanden, über ihre Ursachen nachzudenken, den Mitteln zu
ihrer Abhilfe nachzusinnen und die Kräfte kennen zu lernen, die die
Welt bewegen. Aber ebenso wie sie durch die gemeinschaftliche
Arbeit erst in Berührung kamen mit dem öffentlichen Leben und
dadurch für politische Jnteressen erwachen konnten, ebenso konnten
sie nicht eher Anspruch erheben auf besondere Berücksichtigung durch
die Gesetzgebung, noch weniger auf die Anerkennung politischer
Gleichberechtigung, als bis sie entlassen waren aus dem alleinigen
Schutz des Hauses, und als selbstständige Menschen den Kampf ums
Dasein ebenso aufnahmen wie die Männer.

Heute haben die Frauen in fast allen Berufszweigen Eingang
gefunden. Nicht nur, daß alle alten Frauenberufe ihnen erhalten
blieben, – nur daß an Stelle des häuslichen Spinnrads die
Spinningjenny der Fabriken, an Stelle des primitiven Webstuhls
der Selfaktor trat; die vier Stricknadeln der fleißigen Hausfrau
durch den Strumpfwirkerstuhl, die kunstvolle Nadelarbeit der
Spitzennäherin durch die Bobbinetmaschine ersetzt wurde, und auf
dem ganzen Gebiet der Bekleidungsindustrie durch die verschieden-
artigsten Nähmaschinen die größten Veränderungen in Bezug auf
Arbeitsweisen und Arbeitsbedingungen hervorgerufen wurden, –
es eröffneten sich ihnen fast alljährlich neue. Jn allem beinahe, was
uns umgiebt, was unser Leben schmücken und erhalten, unseren Geist
bilden und erfreuen hilft, steckt Frauenarbeit. Sie spinnen, weben
und nähen nicht nur, durch Frauenhände gingen die Ziegel des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0009" n="10"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">3. Von der Arbeiterin zur Staatsbürgerin</hi>.</head><lb/>
          <p>Alles Reden über die Befreiung der Frau aus ökonomischen,<lb/>
rechtlichen                         und sittlichen Fesseln, in die alte Zeiten sie geschlagen<lb/>
haben, wäre                         nichts als leere Phrase, wenn nicht die grausame Lehr-<lb/>
meisterin Noth                         die große Emanzipatorin Arbeit gezeugt hätte.</p><lb/>
          <p>So lange die Frauen an das Haus gefesselt blieben, war ihr<lb/>
geistiger                         Gesichtskreis meist so eng wie seine Wände. Der Strom<lb/>
der Welt brauste                         an ihnen vorüber, sie empfanden es kaum. Ehr-<lb/>
furcht vor Krummstab und                         Szepter, fanatischer Autoritätsglaube,<lb/>
Unterdrückung der eigenen                         Jndividualität, &#x2013; das Alles wucherte<lb/>
zwischen den Mauern eng                         umfriedeter Häuslichkeit unter dem Schutz<lb/>
und der Leitung der Frauen.                         Gewaltsam mußten sie aus dieser<lb/>
dumpfen Luft herausgerissen werden in                         den Sturm des Lebens-<lb/>
kampfes, um ihre Kräfte zu prüfen und zu                         entwickeln, um selbst<lb/>
fähig zu werden, an der Kulturarbeit der                         Menschheit mitzuwirken.</p><lb/>
          <p>Die Masse der Frauen früherer Zeiten hatten keinerlei Jnteresse<lb/>
an den                         politischen Vorgängen innerhalb ihres Vaterlandes. Erst<lb/>
als sie                         eintraten in die Werkstatt und in die Fabrik, als die Männer<lb/>
aus ihren                         Tänzern, Liebhabern und Eheherren ihre Arbeitsgenossen<lb/>
wurden, als die                         gleiche Noth alle bedrückte, war für sie die Möglich-<lb/>
keit vorhanden,                         über ihre Ursachen nachzudenken, den Mitteln zu<lb/>
ihrer Abhilfe                         nachzusinnen und die Kräfte kennen zu lernen, die die<lb/>
Welt bewegen.                         Aber ebenso wie sie durch die gemeinschaftliche<lb/>
Arbeit erst in                         Berührung kamen mit dem öffentlichen Leben und<lb/>
dadurch für politische                         Jnteressen erwachen konnten, ebenso konnten<lb/>
sie nicht eher Anspruch                         erheben auf besondere Berücksichtigung durch<lb/>
die Gesetzgebung, noch                         weniger auf die Anerkennung politischer<lb/>
Gleichberechtigung, als bis sie                         entlassen waren aus dem alleinigen<lb/>
Schutz des Hauses, und als                         selbstständige Menschen den Kampf ums<lb/>
Dasein ebenso aufnahmen wie die                         Männer.</p><lb/>
          <p>Heute haben die Frauen in fast allen Berufszweigen Eingang<lb/>
gefunden.                         Nicht nur, daß alle alten Frauenberufe ihnen erhalten<lb/>
blieben, &#x2013;                         nur daß an Stelle des häuslichen Spinnrads die<lb/>
Spinningjenny der                         Fabriken, an Stelle des primitiven Webstuhls<lb/>
der Selfaktor trat; die                         vier Stricknadeln der fleißigen Hausfrau<lb/>
durch den Strumpfwirkerstuhl,                         die kunstvolle Nadelarbeit der<lb/>
Spitzennäherin durch die                         Bobbinetmaschine ersetzt wurde, und auf<lb/>
dem ganzen Gebiet der                         Bekleidungsindustrie durch die verschieden-<lb/>
artigsten Nähmaschinen die                         größten Veränderungen in Bezug auf<lb/>
Arbeitsweisen und Arbeitsbedingungen                         hervorgerufen wurden, &#x2013;<lb/>
es eröffneten sich ihnen fast                         alljährlich neue. Jn allem beinahe, was<lb/>
uns umgiebt, was unser Leben                         schmücken und erhalten, unseren Geist<lb/>
bilden und erfreuen hilft, steckt                         Frauenarbeit. Sie spinnen, weben<lb/>
und nähen nicht nur, durch Frauenhände                         gingen die Ziegel des<lb/>
&#x2003;
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0009] 3. Von der Arbeiterin zur Staatsbürgerin. Alles Reden über die Befreiung der Frau aus ökonomischen, rechtlichen und sittlichen Fesseln, in die alte Zeiten sie geschlagen haben, wäre nichts als leere Phrase, wenn nicht die grausame Lehr- meisterin Noth die große Emanzipatorin Arbeit gezeugt hätte. So lange die Frauen an das Haus gefesselt blieben, war ihr geistiger Gesichtskreis meist so eng wie seine Wände. Der Strom der Welt brauste an ihnen vorüber, sie empfanden es kaum. Ehr- furcht vor Krummstab und Szepter, fanatischer Autoritätsglaube, Unterdrückung der eigenen Jndividualität, – das Alles wucherte zwischen den Mauern eng umfriedeter Häuslichkeit unter dem Schutz und der Leitung der Frauen. Gewaltsam mußten sie aus dieser dumpfen Luft herausgerissen werden in den Sturm des Lebens- kampfes, um ihre Kräfte zu prüfen und zu entwickeln, um selbst fähig zu werden, an der Kulturarbeit der Menschheit mitzuwirken. Die Masse der Frauen früherer Zeiten hatten keinerlei Jnteresse an den politischen Vorgängen innerhalb ihres Vaterlandes. Erst als sie eintraten in die Werkstatt und in die Fabrik, als die Männer aus ihren Tänzern, Liebhabern und Eheherren ihre Arbeitsgenossen wurden, als die gleiche Noth alle bedrückte, war für sie die Möglich- keit vorhanden, über ihre Ursachen nachzudenken, den Mitteln zu ihrer Abhilfe nachzusinnen und die Kräfte kennen zu lernen, die die Welt bewegen. Aber ebenso wie sie durch die gemeinschaftliche Arbeit erst in Berührung kamen mit dem öffentlichen Leben und dadurch für politische Jnteressen erwachen konnten, ebenso konnten sie nicht eher Anspruch erheben auf besondere Berücksichtigung durch die Gesetzgebung, noch weniger auf die Anerkennung politischer Gleichberechtigung, als bis sie entlassen waren aus dem alleinigen Schutz des Hauses, und als selbstständige Menschen den Kampf ums Dasein ebenso aufnahmen wie die Männer. Heute haben die Frauen in fast allen Berufszweigen Eingang gefunden. Nicht nur, daß alle alten Frauenberufe ihnen erhalten blieben, – nur daß an Stelle des häuslichen Spinnrads die Spinningjenny der Fabriken, an Stelle des primitiven Webstuhls der Selfaktor trat; die vier Stricknadeln der fleißigen Hausfrau durch den Strumpfwirkerstuhl, die kunstvolle Nadelarbeit der Spitzennäherin durch die Bobbinetmaschine ersetzt wurde, und auf dem ganzen Gebiet der Bekleidungsindustrie durch die verschieden- artigsten Nähmaschinen die größten Veränderungen in Bezug auf Arbeitsweisen und Arbeitsbedingungen hervorgerufen wurden, – es eröffneten sich ihnen fast alljährlich neue. Jn allem beinahe, was uns umgiebt, was unser Leben schmücken und erhalten, unseren Geist bilden und erfreuen hilft, steckt Frauenarbeit. Sie spinnen, weben und nähen nicht nur, durch Frauenhände gingen die Ziegel des  

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-30T16:52:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/9
Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/9>, abgerufen am 28.03.2024.