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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

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wenn anders die Sicherheit ihres eigenen Besitzes nicht bedroht, seine
Grundlage ihm nicht entzogen werden soll, - so gewiß wird
die Noth immer weite Volkskreise zu ergreifen vermögen. Weder
die Zeiten wirtschaftlichen Niederganges, in denen die Fabriken oft
nur die Hälfte ihrer bisherigen Arbeiter beschäftigen und viele ganz
geschlossen werden, um statt dessen die Arbeit von der billigeren
und zumeist von Frauen besetzten Hausindustrie ausführen zu lassen,
noch die regelmäßig wiederkehrenden Wochen im Jahr, in denen die
Arbeit ruht, sind unter der herrschenden kapitalistischen Wirthschafts-
ordnung zu beseitigen. Es ist auch keinerlei Aussicht vorhanden,
daß die Unternehmer etwa aus gutem Herzen die Löhne der Arbeiter
bis zu einer angemessenen Höhe steigern würden. Jhr Jnteresse,
die Anhäufung ihres Kapitals ununterbrochen fortzusetzen, steht dem
Jnteresse der Arbeiter an der Erlangung menschenwürdiger Lebens-
bedingungen schroff gegenüber, und wird so lange seinen Einfluß
auf die Gestaltung der socialen Verhältnisse behaupten, als ihre
Macht und nicht die der Arbeiter im Staate ausschlaggebend ist.
Daneben wird unter dem wachsenden Einfluß der Großgrund-
besitzer, - der Agrarier, - die Lebenshaltung immer kostspieliger
werden: das Brot wird kleiner, das Fleisch theurer, alle Lebens-
mittel sind mit indirekten Steuern belastet. Schließlich treten als
Dritte im Bunde die Hausbesitzer hinzu, denn immer größer wird
der Prozentsatz, den der Arbeiter von seinem Lohn für Wohnungs-
miethe ausgeben muß. Und endlich wachsen die Anforderungen an
das Leben. Der Arbeiter lernt die einfachsten Regeln zur Erhaltung
der Gesundheit kennen, er will nicht mehr, eingepfercht mit vielen
Anderen, in licht- und luftloser Kammer hausen, wo seine und seiner
Kinder Lebenskraft frühzeitig aufgezehrt wird. Der jungen Ar-
beiterin sehnlichster Wunsch ist, ein eigenes Zimmer zu besitzen an
Stelle der widerlichen Schlafstelle, und die Frau und Mutter wünscht
sich ein gemüthliches Stübchen, wo sie nach der Arbeit mit den
Jhren sitzen, sich ausruhen, plaudern, lesen kann, ohne von Küchen-^,
Wäsche- und Arbeitsdunst umgeben zu sein. Und die Freude an der
Natur regt sich allenthalben: sie drückt sich aus in den Lauben-
kolonien, die von den glücklicheren unter den Proletariern in der
Nähe großer Städte geschaffen werden, in dem Zug ins Freie, sobald
ein Feiertag es zuläßt. Fast ebenso stark äußert sich der Trieb
nach Bildung: mit bewundernswertem Eifer studieren Männer und
Frauen, kaum heimgekehrt von schwerer Tagesarbeit, ernste Bücher
und besuchen wissenschaftliche Vorträge aller Art, um nur zu oft
die schmerzliche Erkenntniß zu gewinnen, daß ihnen der Schlüssel
zu all dem Reichthum fehlt: die Vorbildung. Um ihre Kinder vor
derselben traurigen Erfahrung zu bewahren, gilt es, ihnen die
Möglichkeit eines gründlicheren Schulunterrichts zu verschaffen.
Aber auch ein anderes Bedürfniß beginnt, wenn auch erst ganz leise,
sich zu regen: das Schönheitsbedürfniß nämlich, und es wird gewiß

wenn anders die Sicherheit ihres eigenen Besitzes nicht bedroht, seine
Grundlage ihm nicht entzogen werden soll, – so gewiß wird
die Noth immer weite Volkskreise zu ergreifen vermögen. Weder
die Zeiten wirtschaftlichen Niederganges, in denen die Fabriken oft
nur die Hälfte ihrer bisherigen Arbeiter beschäftigen und viele ganz
geschlossen werden, um statt dessen die Arbeit von der billigeren
und zumeist von Frauen besetzten Hausindustrie ausführen zu lassen,
noch die regelmäßig wiederkehrenden Wochen im Jahr, in denen die
Arbeit ruht, sind unter der herrschenden kapitalistischen Wirthschafts-
ordnung zu beseitigen. Es ist auch keinerlei Aussicht vorhanden,
daß die Unternehmer etwa aus gutem Herzen die Löhne der Arbeiter
bis zu einer angemessenen Höhe steigern würden. Jhr Jnteresse,
die Anhäufung ihres Kapitals ununterbrochen fortzusetzen, steht dem
Jnteresse der Arbeiter an der Erlangung menschenwürdiger Lebens-
bedingungen schroff gegenüber, und wird so lange seinen Einfluß
auf die Gestaltung der socialen Verhältnisse behaupten, als ihre
Macht und nicht die der Arbeiter im Staate ausschlaggebend ist.
Daneben wird unter dem wachsenden Einfluß der Großgrund-
besitzer, – der Agrarier, – die Lebenshaltung immer kostspieliger
werden: das Brot wird kleiner, das Fleisch theurer, alle Lebens-
mittel sind mit indirekten Steuern belastet. Schließlich treten als
Dritte im Bunde die Hausbesitzer hinzu, denn immer größer wird
der Prozentsatz, den der Arbeiter von seinem Lohn für Wohnungs-
miethe ausgeben muß. Und endlich wachsen die Anforderungen an
das Leben. Der Arbeiter lernt die einfachsten Regeln zur Erhaltung
der Gesundheit kennen, er will nicht mehr, eingepfercht mit vielen
Anderen, in licht- und luftloser Kammer hausen, wo seine und seiner
Kinder Lebenskraft frühzeitig aufgezehrt wird. Der jungen Ar-
beiterin sehnlichster Wunsch ist, ein eigenes Zimmer zu besitzen an
Stelle der widerlichen Schlafstelle, und die Frau und Mutter wünscht
sich ein gemüthliches Stübchen, wo sie nach der Arbeit mit den
Jhren sitzen, sich ausruhen, plaudern, lesen kann, ohne von Küchen-^,
Wäsche- und Arbeitsdunst umgeben zu sein. Und die Freude an der
Natur regt sich allenthalben: sie drückt sich aus in den Lauben-
kolonien, die von den glücklicheren unter den Proletariern in der
Nähe großer Städte geschaffen werden, in dem Zug ins Freie, sobald
ein Feiertag es zuläßt. Fast ebenso stark äußert sich der Trieb
nach Bildung: mit bewundernswertem Eifer studieren Männer und
Frauen, kaum heimgekehrt von schwerer Tagesarbeit, ernste Bücher
und besuchen wissenschaftliche Vorträge aller Art, um nur zu oft
die schmerzliche Erkenntniß zu gewinnen, daß ihnen der Schlüssel
zu all dem Reichthum fehlt: die Vorbildung. Um ihre Kinder vor
derselben traurigen Erfahrung zu bewahren, gilt es, ihnen die
Möglichkeit eines gründlicheren Schulunterrichts zu verschaffen.
Aber auch ein anderes Bedürfniß beginnt, wenn auch erst ganz leise,
sich zu regen: das Schönheitsbedürfniß nämlich, und es wird gewiß

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[8/0007] wenn anders die Sicherheit ihres eigenen Besitzes nicht bedroht, seine Grundlage ihm nicht entzogen werden soll, – so gewiß wird die Noth immer weite Volkskreise zu ergreifen vermögen. Weder die Zeiten wirtschaftlichen Niederganges, in denen die Fabriken oft nur die Hälfte ihrer bisherigen Arbeiter beschäftigen und viele ganz geschlossen werden, um statt dessen die Arbeit von der billigeren und zumeist von Frauen besetzten Hausindustrie ausführen zu lassen, noch die regelmäßig wiederkehrenden Wochen im Jahr, in denen die Arbeit ruht, sind unter der herrschenden kapitalistischen Wirthschafts- ordnung zu beseitigen. Es ist auch keinerlei Aussicht vorhanden, daß die Unternehmer etwa aus gutem Herzen die Löhne der Arbeiter bis zu einer angemessenen Höhe steigern würden. Jhr Jnteresse, die Anhäufung ihres Kapitals ununterbrochen fortzusetzen, steht dem Jnteresse der Arbeiter an der Erlangung menschenwürdiger Lebens- bedingungen schroff gegenüber, und wird so lange seinen Einfluß auf die Gestaltung der socialen Verhältnisse behaupten, als ihre Macht und nicht die der Arbeiter im Staate ausschlaggebend ist. Daneben wird unter dem wachsenden Einfluß der Großgrund- besitzer, – der Agrarier, – die Lebenshaltung immer kostspieliger werden: das Brot wird kleiner, das Fleisch theurer, alle Lebens- mittel sind mit indirekten Steuern belastet. Schließlich treten als Dritte im Bunde die Hausbesitzer hinzu, denn immer größer wird der Prozentsatz, den der Arbeiter von seinem Lohn für Wohnungs- miethe ausgeben muß. Und endlich wachsen die Anforderungen an das Leben. Der Arbeiter lernt die einfachsten Regeln zur Erhaltung der Gesundheit kennen, er will nicht mehr, eingepfercht mit vielen Anderen, in licht- und luftloser Kammer hausen, wo seine und seiner Kinder Lebenskraft frühzeitig aufgezehrt wird. Der jungen Ar- beiterin sehnlichster Wunsch ist, ein eigenes Zimmer zu besitzen an Stelle der widerlichen Schlafstelle, und die Frau und Mutter wünscht sich ein gemüthliches Stübchen, wo sie nach der Arbeit mit den Jhren sitzen, sich ausruhen, plaudern, lesen kann, ohne von Küchen-^, Wäsche- und Arbeitsdunst umgeben zu sein. Und die Freude an der Natur regt sich allenthalben: sie drückt sich aus in den Lauben- kolonien, die von den glücklicheren unter den Proletariern in der Nähe großer Städte geschaffen werden, in dem Zug ins Freie, sobald ein Feiertag es zuläßt. Fast ebenso stark äußert sich der Trieb nach Bildung: mit bewundernswertem Eifer studieren Männer und Frauen, kaum heimgekehrt von schwerer Tagesarbeit, ernste Bücher und besuchen wissenschaftliche Vorträge aller Art, um nur zu oft die schmerzliche Erkenntniß zu gewinnen, daß ihnen der Schlüssel zu all dem Reichthum fehlt: die Vorbildung. Um ihre Kinder vor derselben traurigen Erfahrung zu bewahren, gilt es, ihnen die Möglichkeit eines gründlicheren Schulunterrichts zu verschaffen. Aber auch ein anderes Bedürfniß beginnt, wenn auch erst ganz leise, sich zu regen: das Schönheitsbedürfniß nämlich, und es wird gewiß

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Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/7>, abgerufen am 29.03.2024.