Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

unter 14 Jahren, die außerhalb der Fabriken, wo durch die Ge-
werbe-Jnspektoren die Zahl von zirka 9000 festgestellt wurde, ihre
schwachen Kräfte dem Kampf ums Dasein opfern müssen. Laut genug
redete der Jammer aus diesen Zahlen, dennoch dauerte es vier Jahre,
ehe die Regierung einen neuen Schritt wagte und einen Gesetzentwurf
vorlegte, der im Reichstage zur Annahme gelangte. Er bedeutet
nach einer Richtung hin einen namhaften Fortschritt: zum ersten
Mal wagten es nämlich deutsche Gesetzgeber, die bisher für un-
übersteiglich geltenden Mauern des Familienkreises zu überschreiten,
indem sie nicht nur fremde, nein, auch die eigenen Kinder vor Aus-
beutung zu schützen suchten. Und doch sieht die ganze Sache einem
jämmerlichen Flickwerk erschreckend ähnlich. Nicht nur, daß von
einer, wenigstens in Zukunft vorzunehmenden Ausdehnung des
Schutzes auf alle arbeitenden Kinder gar nicht die Rede ist, - die
Herren Agrarier fürchten, es könnten ihnen ihre billigsten und
willigsten Landarbeiter genommen werden, und kleiden diese Furcht
in die schöne Phrase von der erzieherischen Nothwendigkeit der
Kinderarbeit ein, - die Altersgrenze ist überdies für manche Be-
schäftigungsarten außerordentlich niedrig gegriffen. Jn Werkstätten,
mit Ausnahme einiger weniger, in denen Kinderarbeit überhaupt
verboten ist, dürfen Kinder von 13 Jahren an beschäftigt werden.
Jm Handelsgewerbe, bei öffentlichen Schaustellungen (Theater,
Zirkus u. s. w.) ist die Kinderarbeit nur bis zu 12 Jahren, beim
Austragen von Waaren und Botengängen gar nur bis zu 10 Jahren
verboten. Jn Gast- und Schankwirthschaften dürfen zwar fremde
Kinder gar nicht angestellt werden, eigene aber, - darunter werden
selbst solche verstanden, die im dritten Grade mit dem Unternehmer
verwandt sind, - dafür ohne jede Altersbeschränkung. Alle diese
Bestimmungen erscheinen um so unzureichender, wenn wir uns klar
machen, wie die größte Masse 11-, 12- und 13 jähriger Proletarier-
kinder, die nach dem neuen Gesetz zu verschiedenster Arbeit zugelassen
werden, thatsächlich aussehen: nur allzu oft kleiner und schwächer
als 7-, 8- und 9 jährige Kinder bürgerlicher Familien! Schaaren
armer, um das Glück ihrer Jugend, - vielleicht das einzige, dessen
sie theilhaftig werden könnten! - betrogener Kinder stehen auch
heute noch außerhalb jeden Schutzes!

Denken wir an die Laufburschen, die von der Schwindsucht früh
gezeichneten, an die Kegeljungen mit den übernächtigen, müden
Augen, die dem Alkoholteufel allzu bald verfallen, an die Backwerk-
und Zeitungsausträger, die vor Thau und Tage in grimmer Winter-
kälte treppauf, treppab jagen in ihren dünnen Fähnchen mit
knurrendem Magen, an die Hausirer und Blumenverkäufer, die mit
gierigen Augen hineinschauen in den tiefsten, von tausend Jrr-
lichtern vergoldeten Sumpf der Großstadt, an die jungen Zirkus-
künstler, die mit angstverzerrten Mienen für wenige Groschen ihre
von Hunger und Hieben ausgemergelten Glieder verrenken, an die

unter 14 Jahren, die außerhalb der Fabriken, wo durch die Ge-
werbe-Jnspektoren die Zahl von zirka 9000 festgestellt wurde, ihre
schwachen Kräfte dem Kampf ums Dasein opfern müssen. Laut genug
redete der Jammer aus diesen Zahlen, dennoch dauerte es vier Jahre,
ehe die Regierung einen neuen Schritt wagte und einen Gesetzentwurf
vorlegte, der im Reichstage zur Annahme gelangte. Er bedeutet
nach einer Richtung hin einen namhaften Fortschritt: zum ersten
Mal wagten es nämlich deutsche Gesetzgeber, die bisher für un-
übersteiglich geltenden Mauern des Familienkreises zu überschreiten,
indem sie nicht nur fremde, nein, auch die eigenen Kinder vor Aus-
beutung zu schützen suchten. Und doch sieht die ganze Sache einem
jämmerlichen Flickwerk erschreckend ähnlich. Nicht nur, daß von
einer, wenigstens in Zukunft vorzunehmenden Ausdehnung des
Schutzes auf alle arbeitenden Kinder gar nicht die Rede ist, – die
Herren Agrarier fürchten, es könnten ihnen ihre billigsten und
willigsten Landarbeiter genommen werden, und kleiden diese Furcht
in die schöne Phrase von der erzieherischen Nothwendigkeit der
Kinderarbeit ein, – die Altersgrenze ist überdies für manche Be-
schäftigungsarten außerordentlich niedrig gegriffen. Jn Werkstätten,
mit Ausnahme einiger weniger, in denen Kinderarbeit überhaupt
verboten ist, dürfen Kinder von 13 Jahren an beschäftigt werden.
Jm Handelsgewerbe, bei öffentlichen Schaustellungen (Theater,
Zirkus u. s. w.) ist die Kinderarbeit nur bis zu 12 Jahren, beim
Austragen von Waaren und Botengängen gar nur bis zu 10 Jahren
verboten. Jn Gast- und Schankwirthschaften dürfen zwar fremde
Kinder gar nicht angestellt werden, eigene aber, – darunter werden
selbst solche verstanden, die im dritten Grade mit dem Unternehmer
verwandt sind, – dafür ohne jede Altersbeschränkung. Alle diese
Bestimmungen erscheinen um so unzureichender, wenn wir uns klar
machen, wie die größte Masse 11-, 12- und 13 jähriger Proletarier-
kinder, die nach dem neuen Gesetz zu verschiedenster Arbeit zugelassen
werden, thatsächlich aussehen: nur allzu oft kleiner und schwächer
als 7-, 8- und 9 jährige Kinder bürgerlicher Familien! Schaaren
armer, um das Glück ihrer Jugend, – vielleicht das einzige, dessen
sie theilhaftig werden könnten! – betrogener Kinder stehen auch
heute noch außerhalb jeden Schutzes!

Denken wir an die Laufburschen, die von der Schwindsucht früh
gezeichneten, an die Kegeljungen mit den übernächtigen, müden
Augen, die dem Alkoholteufel allzu bald verfallen, an die Backwerk-
und Zeitungsausträger, die vor Thau und Tage in grimmer Winter-
kälte treppauf, treppab jagen in ihren dünnen Fähnchen mit
knurrendem Magen, an die Hausirer und Blumenverkäufer, die mit
gierigen Augen hineinschauen in den tiefsten, von tausend Jrr-
lichtern vergoldeten Sumpf der Großstadt, an die jungen Zirkus-
künstler, die mit angstverzerrten Mienen für wenige Groschen ihre
von Hunger und Hieben ausgemergelten Glieder verrenken, an die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0017" n="18"/>
unter 14 Jahren, die außerhalb der Fabriken, wo                         durch die Ge-<lb/>
werbe-Jnspektoren die Zahl von zirka 9000 festgestellt                         wurde, ihre<lb/>
schwachen Kräfte dem Kampf ums Dasein opfern müssen. Laut                         genug<lb/>
redete der Jammer aus diesen Zahlen, dennoch dauerte es vier                         Jahre,<lb/>
ehe die Regierung einen neuen Schritt wagte und einen                         Gesetzentwurf<lb/>
vorlegte, der im Reichstage zur Annahme gelangte. Er                         bedeutet<lb/>
nach einer Richtung hin einen namhaften Fortschritt: zum                         ersten<lb/>
Mal wagten es nämlich deutsche Gesetzgeber, die bisher für                         un-<lb/>
übersteiglich geltenden Mauern des Familienkreises zu                         überschreiten,<lb/>
indem sie nicht nur fremde, nein, auch die eigenen                         Kinder vor Aus-<lb/>
beutung zu schützen suchten. Und doch sieht die ganze                         Sache einem<lb/>
jämmerlichen Flickwerk erschreckend ähnlich. Nicht nur, daß                         von<lb/>
einer, wenigstens in Zukunft vorzunehmenden Ausdehnung des<lb/>
Schutzes auf alle arbeitenden Kinder gar nicht die Rede ist, &#x2013;                         die<lb/>
Herren Agrarier fürchten, es könnten ihnen ihre billigsten und<lb/>
willigsten Landarbeiter genommen werden, und kleiden diese Furcht<lb/>
in                         die schöne Phrase von der erzieherischen Nothwendigkeit der<lb/>
Kinderarbeit ein, &#x2013; die Altersgrenze ist überdies für manche Be-<lb/>
schäftigungsarten außerordentlich niedrig gegriffen. Jn Werkstätten,<lb/>
mit Ausnahme einiger weniger, in denen Kinderarbeit überhaupt<lb/>
verboten                         ist, dürfen Kinder von 13 Jahren an beschäftigt werden.<lb/>
Jm                         Handelsgewerbe, bei öffentlichen Schaustellungen (Theater,<lb/>
Zirkus u. s.                         w.) ist die Kinderarbeit nur bis zu 12 Jahren, beim<lb/>
Austragen von                         Waaren und Botengängen gar nur bis zu 10 Jahren<lb/>
verboten. Jn Gast- und                         Schankwirthschaften dürfen zwar fremde<lb/>
Kinder gar nicht angestellt                         werden, eigene aber, &#x2013; darunter werden<lb/>
selbst solche verstanden,                         die im dritten Grade mit dem Unternehmer<lb/>
verwandt sind, &#x2013; dafür                         ohne jede Altersbeschränkung. Alle diese<lb/>
Bestimmungen erscheinen um so                         unzureichender, wenn wir uns klar<lb/>
machen, wie die größte Masse 11-, 12-                         und 13 jähriger Proletarier-<lb/>
kinder, die nach dem neuen Gesetz zu                         verschiedenster Arbeit zugelassen<lb/>
werden, thatsächlich aussehen: nur                         allzu oft kleiner und schwächer<lb/>
als 7-, 8- und 9 jährige Kinder                         bürgerlicher Familien! Schaaren<lb/>
armer, um das Glück ihrer Jugend,                         &#x2013; vielleicht das einzige, dessen<lb/>
sie theilhaftig werden könnten!                         &#x2013; betrogener Kinder stehen auch<lb/>
heute noch außerhalb jeden                         Schutzes!</p><lb/>
          <p>Denken wir an die Laufburschen, die von der Schwindsucht früh<lb/>
gezeichneten, an die Kegeljungen mit den übernächtigen, müden<lb/>
Augen,                         die dem Alkoholteufel allzu bald verfallen, an die Backwerk-<lb/>
und                         Zeitungsausträger, die vor Thau und Tage in grimmer Winter-<lb/>
kälte                         treppauf, treppab jagen in ihren dünnen Fähnchen mit<lb/>
knurrendem Magen,                         an die Hausirer und Blumenverkäufer, die mit<lb/>
gierigen Augen                         hineinschauen in den tiefsten, von tausend Jrr-<lb/>
lichtern vergoldeten                         Sumpf der Großstadt, an die jungen Zirkus-<lb/>
künstler, die mit                         angstverzerrten Mienen für wenige Groschen ihre<lb/>
von Hunger und Hieben                         ausgemergelten Glieder verrenken, an die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0017] unter 14 Jahren, die außerhalb der Fabriken, wo durch die Ge- werbe-Jnspektoren die Zahl von zirka 9000 festgestellt wurde, ihre schwachen Kräfte dem Kampf ums Dasein opfern müssen. Laut genug redete der Jammer aus diesen Zahlen, dennoch dauerte es vier Jahre, ehe die Regierung einen neuen Schritt wagte und einen Gesetzentwurf vorlegte, der im Reichstage zur Annahme gelangte. Er bedeutet nach einer Richtung hin einen namhaften Fortschritt: zum ersten Mal wagten es nämlich deutsche Gesetzgeber, die bisher für un- übersteiglich geltenden Mauern des Familienkreises zu überschreiten, indem sie nicht nur fremde, nein, auch die eigenen Kinder vor Aus- beutung zu schützen suchten. Und doch sieht die ganze Sache einem jämmerlichen Flickwerk erschreckend ähnlich. Nicht nur, daß von einer, wenigstens in Zukunft vorzunehmenden Ausdehnung des Schutzes auf alle arbeitenden Kinder gar nicht die Rede ist, – die Herren Agrarier fürchten, es könnten ihnen ihre billigsten und willigsten Landarbeiter genommen werden, und kleiden diese Furcht in die schöne Phrase von der erzieherischen Nothwendigkeit der Kinderarbeit ein, – die Altersgrenze ist überdies für manche Be- schäftigungsarten außerordentlich niedrig gegriffen. Jn Werkstätten, mit Ausnahme einiger weniger, in denen Kinderarbeit überhaupt verboten ist, dürfen Kinder von 13 Jahren an beschäftigt werden. Jm Handelsgewerbe, bei öffentlichen Schaustellungen (Theater, Zirkus u. s. w.) ist die Kinderarbeit nur bis zu 12 Jahren, beim Austragen von Waaren und Botengängen gar nur bis zu 10 Jahren verboten. Jn Gast- und Schankwirthschaften dürfen zwar fremde Kinder gar nicht angestellt werden, eigene aber, – darunter werden selbst solche verstanden, die im dritten Grade mit dem Unternehmer verwandt sind, – dafür ohne jede Altersbeschränkung. Alle diese Bestimmungen erscheinen um so unzureichender, wenn wir uns klar machen, wie die größte Masse 11-, 12- und 13 jähriger Proletarier- kinder, die nach dem neuen Gesetz zu verschiedenster Arbeit zugelassen werden, thatsächlich aussehen: nur allzu oft kleiner und schwächer als 7-, 8- und 9 jährige Kinder bürgerlicher Familien! Schaaren armer, um das Glück ihrer Jugend, – vielleicht das einzige, dessen sie theilhaftig werden könnten! – betrogener Kinder stehen auch heute noch außerhalb jeden Schutzes! Denken wir an die Laufburschen, die von der Schwindsucht früh gezeichneten, an die Kegeljungen mit den übernächtigen, müden Augen, die dem Alkoholteufel allzu bald verfallen, an die Backwerk- und Zeitungsausträger, die vor Thau und Tage in grimmer Winter- kälte treppauf, treppab jagen in ihren dünnen Fähnchen mit knurrendem Magen, an die Hausirer und Blumenverkäufer, die mit gierigen Augen hineinschauen in den tiefsten, von tausend Jrr- lichtern vergoldeten Sumpf der Großstadt, an die jungen Zirkus- künstler, die mit angstverzerrten Mienen für wenige Groschen ihre von Hunger und Hieben ausgemergelten Glieder verrenken, an die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-30T16:52:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/17
Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/17>, abgerufen am 24.11.2024.