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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

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von einem "Sturmschritt" zu sprechen, mit dem man auf diesem
Gebiet vorwärts eilt und vor "Ueberstürzung" zu warnen. Schauen
wir uns daraufhin einmal an, was denn auf dem Gebiete des
Arbeiterinnenschutzes so Außerordentliches geschehen ist; es läßt sich
in der Hauptsache ohne Schwierigkeit in wenige Sätze zusammen-
fassen: 1. Für Arbeiterinnen über 16 Jahre besteht der elfstündige
Arbeitstag, an Vorabenden der Sonn- und Festtage der zehn-
stündige. 2. Eine einstündige Mittagspause ist vorgeschrieben, die
auf Wunsch der Arbeiterinnen, die ein Hauswesen zu besorgen haben,
um eine halbe Stunde verlängert werden kann. 3. Die Nachtarbeit
ist verboten. 4. Wöchnerinnen dürfen sechs Wochen nach der Nieder-
kunft nicht beschäftigt werden, auf ärztliches Attest eventuell nur
vier Wochen. Diese Bestimmungen gelten für Fabriken und Werk-
stätten mit Motorbetrieb und sind schließlich auch auf die Werkstätten
der Konfektionsindustrie ausgedehnt worden, soweit fremde Arbeiter
in ihnen beschäftigt werden. An weiteren Vorschriften kommen noch
hinzu: 1. Das Verbot der Arbeit unter Tage (in Bergwerken);
2. der Neunuhr-Ladenschluß, Bestimmungen über Ruhezeit, Mittags-
pause und Sitzgelegenheit der Handelsgehilfinnen. Schließlich steht
dem Bundesrath noch die Ermächtigung zu, die Frauenarbeit in ge-
sundheitsgefährlichen Betrieben zu verbieten oder einzuschränken.
Das sind im Großen und Ganzen die Errungenschaften von über
drei Jahrzehnten deutschen Arbeiterschutzes! Und sie wären nicht
einmal gering anzuschlagen, wenn nicht fast jede einzelne Bestimmung
durch so und so viel Ausnahmebestimmungen ihrer Wirkung wieder
beraubt würde. So werden aus den 11 Stunden nur zu oft 13,
und Nacht- und Sonntagsruhe werden wieder aufgehoben. Un-
zureichend jedoch erweisen sich auch die besten Gesetze dadurch, daß
es an Mitteln und Kräften fehlt, um sie zur vollständigen Durch-
führung gelangen zu lassen; auf der einen Seite ist die Zahl der
Gewerbe-Jnspektoren viel zu klein, um eine einigermaßen genügende
Aufsicht zu sichern, auf der anderen werden die Arbeiterinnen selbst
daran gehindert, ihre eigenen Rechte zu wahren, weil sie politisch
rechtlos sind. Und um ihre Bedeutung werden die schönsten Ver-
ordnungen vollends gebracht, wenn wir uns vor Augen führen, daß
von den zirka 5 Millionen Arbeiterinnen nur etwa 1 Million, also
der fünfte Teil, ihrer Segnungen teilhaftig werden! Die Land-
arbeiterinnen, die häuslichen Dienstboten sind völlig ungeschützt, der
Willkür und Ausbeutung preisgegeben. Gesinde-Ordnungen aller
Art, die vielfach noch den Geist des dunkelsten Mittelalters wider-
spiegeln, stempeln die Dienstherren zu Feudalherren mit fast un-
eingeschränkten Rechten, und die Mehrheit der deutschen Volks-
vertreter war feige und reaktionär genug, diesen unwürdigen Zu-
stand durch das neue Bürgerliche Gesetzbuch mit in das 20. Jahr-
hundert hinüber zu schleppen! Jgnorirt vom Arbeiterschutz wie sie,
blieben die Schaaren der ärmsten Frauen, die unter dem Namen

von einem „Sturmschritt“ zu sprechen, mit dem man auf diesem
Gebiet vorwärts eilt und vor „Ueberstürzung“ zu warnen. Schauen
wir uns daraufhin einmal an, was denn auf dem Gebiete des
Arbeiterinnenschutzes so Außerordentliches geschehen ist; es läßt sich
in der Hauptsache ohne Schwierigkeit in wenige Sätze zusammen-
fassen: 1. Für Arbeiterinnen über 16 Jahre besteht der elfstündige
Arbeitstag, an Vorabenden der Sonn- und Festtage der zehn-
stündige. 2. Eine einstündige Mittagspause ist vorgeschrieben, die
auf Wunsch der Arbeiterinnen, die ein Hauswesen zu besorgen haben,
um eine halbe Stunde verlängert werden kann. 3. Die Nachtarbeit
ist verboten. 4. Wöchnerinnen dürfen sechs Wochen nach der Nieder-
kunft nicht beschäftigt werden, auf ärztliches Attest eventuell nur
vier Wochen. Diese Bestimmungen gelten für Fabriken und Werk-
stätten mit Motorbetrieb und sind schließlich auch auf die Werkstätten
der Konfektionsindustrie ausgedehnt worden, soweit fremde Arbeiter
in ihnen beschäftigt werden. An weiteren Vorschriften kommen noch
hinzu: 1. Das Verbot der Arbeit unter Tage (in Bergwerken);
2. der Neunuhr-Ladenschluß, Bestimmungen über Ruhezeit, Mittags-
pause und Sitzgelegenheit der Handelsgehilfinnen. Schließlich steht
dem Bundesrath noch die Ermächtigung zu, die Frauenarbeit in ge-
sundheitsgefährlichen Betrieben zu verbieten oder einzuschränken.
Das sind im Großen und Ganzen die Errungenschaften von über
drei Jahrzehnten deutschen Arbeiterschutzes! Und sie wären nicht
einmal gering anzuschlagen, wenn nicht fast jede einzelne Bestimmung
durch so und so viel Ausnahmebestimmungen ihrer Wirkung wieder
beraubt würde. So werden aus den 11 Stunden nur zu oft 13,
und Nacht- und Sonntagsruhe werden wieder aufgehoben. Un-
zureichend jedoch erweisen sich auch die besten Gesetze dadurch, daß
es an Mitteln und Kräften fehlt, um sie zur vollständigen Durch-
führung gelangen zu lassen; auf der einen Seite ist die Zahl der
Gewerbe-Jnspektoren viel zu klein, um eine einigermaßen genügende
Aufsicht zu sichern, auf der anderen werden die Arbeiterinnen selbst
daran gehindert, ihre eigenen Rechte zu wahren, weil sie politisch
rechtlos sind. Und um ihre Bedeutung werden die schönsten Ver-
ordnungen vollends gebracht, wenn wir uns vor Augen führen, daß
von den zirka 5 Millionen Arbeiterinnen nur etwa 1 Million, also
der fünfte Teil, ihrer Segnungen teilhaftig werden! Die Land-
arbeiterinnen, die häuslichen Dienstboten sind völlig ungeschützt, der
Willkür und Ausbeutung preisgegeben. Gesinde-Ordnungen aller
Art, die vielfach noch den Geist des dunkelsten Mittelalters wider-
spiegeln, stempeln die Dienstherren zu Feudalherren mit fast un-
eingeschränkten Rechten, und die Mehrheit der deutschen Volks-
vertreter war feige und reaktionär genug, diesen unwürdigen Zu-
stand durch das neue Bürgerliche Gesetzbuch mit in das 20. Jahr-
hundert hinüber zu schleppen! Jgnorirt vom Arbeiterschutz wie sie,
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[16/0015] von einem „Sturmschritt“ zu sprechen, mit dem man auf diesem Gebiet vorwärts eilt und vor „Ueberstürzung“ zu warnen. Schauen wir uns daraufhin einmal an, was denn auf dem Gebiete des Arbeiterinnenschutzes so Außerordentliches geschehen ist; es läßt sich in der Hauptsache ohne Schwierigkeit in wenige Sätze zusammen- fassen: 1. Für Arbeiterinnen über 16 Jahre besteht der elfstündige Arbeitstag, an Vorabenden der Sonn- und Festtage der zehn- stündige. 2. Eine einstündige Mittagspause ist vorgeschrieben, die auf Wunsch der Arbeiterinnen, die ein Hauswesen zu besorgen haben, um eine halbe Stunde verlängert werden kann. 3. Die Nachtarbeit ist verboten. 4. Wöchnerinnen dürfen sechs Wochen nach der Nieder- kunft nicht beschäftigt werden, auf ärztliches Attest eventuell nur vier Wochen. Diese Bestimmungen gelten für Fabriken und Werk- stätten mit Motorbetrieb und sind schließlich auch auf die Werkstätten der Konfektionsindustrie ausgedehnt worden, soweit fremde Arbeiter in ihnen beschäftigt werden. An weiteren Vorschriften kommen noch hinzu: 1. Das Verbot der Arbeit unter Tage (in Bergwerken); 2. der Neunuhr-Ladenschluß, Bestimmungen über Ruhezeit, Mittags- pause und Sitzgelegenheit der Handelsgehilfinnen. Schließlich steht dem Bundesrath noch die Ermächtigung zu, die Frauenarbeit in ge- sundheitsgefährlichen Betrieben zu verbieten oder einzuschränken. Das sind im Großen und Ganzen die Errungenschaften von über drei Jahrzehnten deutschen Arbeiterschutzes! Und sie wären nicht einmal gering anzuschlagen, wenn nicht fast jede einzelne Bestimmung durch so und so viel Ausnahmebestimmungen ihrer Wirkung wieder beraubt würde. So werden aus den 11 Stunden nur zu oft 13, und Nacht- und Sonntagsruhe werden wieder aufgehoben. Un- zureichend jedoch erweisen sich auch die besten Gesetze dadurch, daß es an Mitteln und Kräften fehlt, um sie zur vollständigen Durch- führung gelangen zu lassen; auf der einen Seite ist die Zahl der Gewerbe-Jnspektoren viel zu klein, um eine einigermaßen genügende Aufsicht zu sichern, auf der anderen werden die Arbeiterinnen selbst daran gehindert, ihre eigenen Rechte zu wahren, weil sie politisch rechtlos sind. Und um ihre Bedeutung werden die schönsten Ver- ordnungen vollends gebracht, wenn wir uns vor Augen führen, daß von den zirka 5 Millionen Arbeiterinnen nur etwa 1 Million, also der fünfte Teil, ihrer Segnungen teilhaftig werden! Die Land- arbeiterinnen, die häuslichen Dienstboten sind völlig ungeschützt, der Willkür und Ausbeutung preisgegeben. Gesinde-Ordnungen aller Art, die vielfach noch den Geist des dunkelsten Mittelalters wider- spiegeln, stempeln die Dienstherren zu Feudalherren mit fast un- eingeschränkten Rechten, und die Mehrheit der deutschen Volks- vertreter war feige und reaktionär genug, diesen unwürdigen Zu- stand durch das neue Bürgerliche Gesetzbuch mit in das 20. Jahr- hundert hinüber zu schleppen! Jgnorirt vom Arbeiterschutz wie sie, blieben die Schaaren der ärmsten Frauen, die unter dem Namen

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Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

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Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/15>, abgerufen am 24.11.2024.