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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1832.

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Gewöhnlicher aber ist es, daß bei mäßiger Kälte die Eis-
bedeckung sich ganz ruhig oben ansetzt; bei plötzlicher strenger Kälte
und in etwas stärker bewegtem Wasser bilden sich unzählige Eis-
nadeln, im Wasser schwimmend, die dann sehr bald zu ganzen
Eisschollen vereinigt die Oberfläche mit Eis bedecken. Daß diese
Eisbildung zuweilen bei gleicher Kälte und gleicher Schnelligkeit
eines und desselben Stromes schneller fortgeht, als zu anderer Zeit,
glaubt Arago aus ungleichem Wärmeverlust durch strahlende
Wärme erklären zu müssen, und bemerkt dabei, daß heitrer Him-
mel die Eisbildung befördere. Indeß ist es wohl gewiß, daß auch
die größere oder geringere Kälte in den entfernten, höhern Gegen-
den eben des Stromes dabei von sehr bedeutendem Einfluß ist, in-
dem oft das den Strom herunter kommende Eis, oft das an dem
Orte selbst entstehende Eis, mehr zur Bildung der Eisdecke
beiträgt.

Ebenso merkwürdig als die Eisbildungen in den Polarmeeren
sind die Gletscher. Es ist bekannt, daß in den höhern Gegenden
der Atmosphäre die Temperatur immer so niedrig ist, daß auf den
höchsten Bergen selbst im Sommer der Schnee nicht aufthaut.
Diese Schneegrenze, oberhalb welcher der Schnee niemals aufthaut,
liegt nicht in der Höhe, wo die mittlere jährliche Temperatur Null
ist, sondern höher, weil die warmen Sommertage so stark auf das
Schmelzen des Schnees wirken. Die Schneegrenze entfernt sich
stärker von der Mittelwärme = 0 in hohen Breiten, weil dieser
vorherrschende Einfluß der Sommerwärme bedeutender in den lan-
gen Sommertagen der hohen Breiten ist, als in der Gegend des
Aequators, wo das ganze Jahr eine beinahe gleichförmige Wärme
hat. Außerdem hängt die Höhe der Schneegrenze noch von Ne-
benumständen ab, indem auf ausgedehnten hohen Gebirgen eine
weit verbreitete niedrige Temperatur das Bestehen des Schnees
unterstützt, wogegen einzelne Bergspitzen, auch wenn ihr Abhang
es gestattet, sich nicht so leicht mit ewigem Schnee bedecken. Diese
Schneegrenze liegt unter dem Aequator 15000 Fuß, in den Alpen
8000 Fuß hoch.

Diesem ewigen Schnee verdanken die Gletscher, die jedoch
weit unter die Schneegrenze herabreichen, ihr Entstehen. Sie bil-

Gewoͤhnlicher aber iſt es, daß bei maͤßiger Kaͤlte die Eis-
bedeckung ſich ganz ruhig oben anſetzt; bei ploͤtzlicher ſtrenger Kaͤlte
und in etwas ſtaͤrker bewegtem Waſſer bilden ſich unzaͤhlige Eis-
nadeln, im Waſſer ſchwimmend, die dann ſehr bald zu ganzen
Eisſchollen vereinigt die Oberflaͤche mit Eis bedecken. Daß dieſe
Eisbildung zuweilen bei gleicher Kaͤlte und gleicher Schnelligkeit
eines und desſelben Stromes ſchneller fortgeht, als zu anderer Zeit,
glaubt Arago aus ungleichem Waͤrmeverluſt durch ſtrahlende
Waͤrme erklaͤren zu muͤſſen, und bemerkt dabei, daß heitrer Him-
mel die Eisbildung befoͤrdere. Indeß iſt es wohl gewiß, daß auch
die groͤßere oder geringere Kaͤlte in den entfernten, hoͤhern Gegen-
den eben des Stromes dabei von ſehr bedeutendem Einfluß iſt, in-
dem oft das den Strom herunter kommende Eis, oft das an dem
Orte ſelbſt entſtehende Eis, mehr zur Bildung der Eisdecke
beitraͤgt.

Ebenſo merkwuͤrdig als die Eisbildungen in den Polarmeeren
ſind die Gletſcher. Es iſt bekannt, daß in den hoͤhern Gegenden
der Atmoſphaͤre die Temperatur immer ſo niedrig iſt, daß auf den
hoͤchſten Bergen ſelbſt im Sommer der Schnee nicht aufthaut.
Dieſe Schneegrenze, oberhalb welcher der Schnee niemals aufthaut,
liegt nicht in der Hoͤhe, wo die mittlere jaͤhrliche Temperatur Null
iſt, ſondern hoͤher, weil die warmen Sommertage ſo ſtark auf das
Schmelzen des Schnees wirken. Die Schneegrenze entfernt ſich
ſtaͤrker von der Mittelwaͤrme = 0 in hohen Breiten, weil dieſer
vorherrſchende Einfluß der Sommerwaͤrme bedeutender in den lan-
gen Sommertagen der hohen Breiten iſt, als in der Gegend des
Aequators, wo das ganze Jahr eine beinahe gleichfoͤrmige Waͤrme
hat. Außerdem haͤngt die Hoͤhe der Schneegrenze noch von Ne-
benumſtaͤnden ab, indem auf ausgedehnten hohen Gebirgen eine
weit verbreitete niedrige Temperatur das Beſtehen des Schnees
unterſtuͤtzt, wogegen einzelne Bergſpitzen, auch wenn ihr Abhang
es geſtattet, ſich nicht ſo leicht mit ewigem Schnee bedecken. Dieſe
Schneegrenze liegt unter dem Aequator 15000 Fuß, in den Alpen
8000 Fuß hoch.

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weit unter die Schneegrenze herabreichen, ihr Entſtehen. Sie bil-

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[94/0108] Gewoͤhnlicher aber iſt es, daß bei maͤßiger Kaͤlte die Eis- bedeckung ſich ganz ruhig oben anſetzt; bei ploͤtzlicher ſtrenger Kaͤlte und in etwas ſtaͤrker bewegtem Waſſer bilden ſich unzaͤhlige Eis- nadeln, im Waſſer ſchwimmend, die dann ſehr bald zu ganzen Eisſchollen vereinigt die Oberflaͤche mit Eis bedecken. Daß dieſe Eisbildung zuweilen bei gleicher Kaͤlte und gleicher Schnelligkeit eines und desſelben Stromes ſchneller fortgeht, als zu anderer Zeit, glaubt Arago aus ungleichem Waͤrmeverluſt durch ſtrahlende Waͤrme erklaͤren zu muͤſſen, und bemerkt dabei, daß heitrer Him- mel die Eisbildung befoͤrdere. Indeß iſt es wohl gewiß, daß auch die groͤßere oder geringere Kaͤlte in den entfernten, hoͤhern Gegen- den eben des Stromes dabei von ſehr bedeutendem Einfluß iſt, in- dem oft das den Strom herunter kommende Eis, oft das an dem Orte ſelbſt entſtehende Eis, mehr zur Bildung der Eisdecke beitraͤgt. Ebenſo merkwuͤrdig als die Eisbildungen in den Polarmeeren ſind die Gletſcher. Es iſt bekannt, daß in den hoͤhern Gegenden der Atmoſphaͤre die Temperatur immer ſo niedrig iſt, daß auf den hoͤchſten Bergen ſelbſt im Sommer der Schnee nicht aufthaut. Dieſe Schneegrenze, oberhalb welcher der Schnee niemals aufthaut, liegt nicht in der Hoͤhe, wo die mittlere jaͤhrliche Temperatur Null iſt, ſondern hoͤher, weil die warmen Sommertage ſo ſtark auf das Schmelzen des Schnees wirken. Die Schneegrenze entfernt ſich ſtaͤrker von der Mittelwaͤrme = 0 in hohen Breiten, weil dieſer vorherrſchende Einfluß der Sommerwaͤrme bedeutender in den lan- gen Sommertagen der hohen Breiten iſt, als in der Gegend des Aequators, wo das ganze Jahr eine beinahe gleichfoͤrmige Waͤrme hat. Außerdem haͤngt die Hoͤhe der Schneegrenze noch von Ne- benumſtaͤnden ab, indem auf ausgedehnten hohen Gebirgen eine weit verbreitete niedrige Temperatur das Beſtehen des Schnees unterſtuͤtzt, wogegen einzelne Bergſpitzen, auch wenn ihr Abhang es geſtattet, ſich nicht ſo leicht mit ewigem Schnee bedecken. Dieſe Schneegrenze liegt unter dem Aequator 15000 Fuß, in den Alpen 8000 Fuß hoch. Dieſem ewigen Schnee verdanken die Gletſcher, die jedoch weit unter die Schneegrenze herabreichen, ihr Entſtehen. Sie bil-

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1832, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre03_1832/108>, abgerufen am 06.05.2024.