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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

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uns belehren, daß diese Entscheidung nicht immer so leicht ist, und
daß wir sehr oft eine scheinbare Bewegung wahrnehmen, wo doch
Ruhe statt findet, und daß Körper uns zu ruhen scheinen, die sich
doch wirklich bewegen. Wenn wir in dem untern Raume eines sehr
gleichförmig fortgehenden Schiffes sitzen, so bemerken wir es oft gar
nicht, daß wir mit allen uns zunächst umgebenden Körpern fortbe-
wegt werden, und wir halten den Tisch, an welchem wir sitzen, die
Wände, die uns umgeben, für ruhend, weil alle diese Gegenstände
unter sich und gegen uns selbst eine ungeänderte Lage behalten. Alle
diese einzelnen Körper sind relativ gegen einander ruhend,
indem sie ihre gegenseitige Lage nicht ändern, und dies verleitet uns,
sie für absolut ruhend zu halten, so lange wir sie nicht mit der
Lage andrer Körper vergleichen, die an der Bewegung jener im
Schiffe befindlichen Körper nicht Theil nehmen. Befinden wir uns
so in der Kajüte des Schiffes in völliger vermeinter Ruhe, und
blicken nun zum Fenster hinaus auf die hinter uns zurückbleibenden
im Wasser schwimmenden Körper, so sind wir geneigt zu glauben,
diese gingen in raschem Strome zurückeilend, an uns vorbei, ja diese
Täuschung findet selbst noch statt, wenn wir auf das Ufer blicken, und
obgleich wir wissen, daß die Bäume und Häuser am Ufer nicht auf diese
Weise zurücklaufen, so können wir doch dem sinnlichen Eindrucke,
als ob es so sei, kaum widerstehen. Eben diese Täuschung empfinden
wir beim schnellen Fahren im Wagen und in vielen andern Fällen,
und wir lernen dadurch, daß unser Urtheil über die Bewegung oder
Ruhe durch unsre eigne Bewegung sehr unsicher wird. Ist es also
wahr, was die Astronomen behaupten, daß die Erde mit großer
Schnelligkeit eine Bahn um die Sonne durchläuft, und zugleich täg-
lich eine Umdrehung um ihre eigne Axe vollendet, so ist es einleuch-
tend, daß uns diese Bewegung durch keinen auf der Erde befindlichen
Gegenstand merklich werden kann, indem Land und Wasser, Berge
und Städte, in eben der gegenseitigen Lage verharrend, und eben
die Lage gegen uns, wenn wir auf der Erde still stehen, behaltend,
mit fortgeführt werden, daß also diese relative Ruhe der auf der Erde
befindlichen Körper gegen einander gar wohl statt finden kann, wenn
auch die ganze Erde mit allen diesen Körpern sich fortbewegt. Wollen
wir wissen, ob die ganze Erde sich bewegt, so müssen wir (wenn ich
den von dem vorhin betrachteten Falle entlehnten Ausdruck hier ge-

uns belehren, daß dieſe Entſcheidung nicht immer ſo leicht iſt, und
daß wir ſehr oft eine ſcheinbare Bewegung wahrnehmen, wo doch
Ruhe ſtatt findet, und daß Koͤrper uns zu ruhen ſcheinen, die ſich
doch wirklich bewegen. Wenn wir in dem untern Raume eines ſehr
gleichfoͤrmig fortgehenden Schiffes ſitzen, ſo bemerken wir es oft gar
nicht, daß wir mit allen uns zunaͤchſt umgebenden Koͤrpern fortbe-
wegt werden, und wir halten den Tiſch, an welchem wir ſitzen, die
Waͤnde, die uns umgeben, fuͤr ruhend, weil alle dieſe Gegenſtaͤnde
unter ſich und gegen uns ſelbſt eine ungeaͤnderte Lage behalten. Alle
dieſe einzelnen Koͤrper ſind relativ gegen einander ruhend,
indem ſie ihre gegenſeitige Lage nicht aͤndern, und dies verleitet uns,
ſie fuͤr abſolut ruhend zu halten, ſo lange wir ſie nicht mit der
Lage andrer Koͤrper vergleichen, die an der Bewegung jener im
Schiffe befindlichen Koͤrper nicht Theil nehmen. Befinden wir uns
ſo in der Kajuͤte des Schiffes in voͤlliger vermeinter Ruhe, und
blicken nun zum Fenſter hinaus auf die hinter uns zuruͤckbleibenden
im Waſſer ſchwimmenden Koͤrper, ſo ſind wir geneigt zu glauben,
dieſe gingen in raſchem Strome zuruͤckeilend, an uns vorbei, ja dieſe
Taͤuſchung findet ſelbſt noch ſtatt, wenn wir auf das Ufer blicken, und
obgleich wir wiſſen, daß die Baͤume und Haͤuſer am Ufer nicht auf dieſe
Weiſe zuruͤcklaufen, ſo koͤnnen wir doch dem ſinnlichen Eindrucke,
als ob es ſo ſei, kaum widerſtehen. Eben dieſe Taͤuſchung empfinden
wir beim ſchnellen Fahren im Wagen und in vielen andern Faͤllen,
und wir lernen dadurch, daß unſer Urtheil uͤber die Bewegung oder
Ruhe durch unſre eigne Bewegung ſehr unſicher wird. Iſt es alſo
wahr, was die Aſtronomen behaupten, daß die Erde mit großer
Schnelligkeit eine Bahn um die Sonne durchlaͤuft, und zugleich taͤg-
lich eine Umdrehung um ihre eigne Axe vollendet, ſo iſt es einleuch-
tend, daß uns dieſe Bewegung durch keinen auf der Erde befindlichen
Gegenſtand merklich werden kann, indem Land und Waſſer, Berge
und Staͤdte, in eben der gegenſeitigen Lage verharrend, und eben
die Lage gegen uns, wenn wir auf der Erde ſtill ſtehen, behaltend,
mit fortgefuͤhrt werden, daß alſo dieſe relative Ruhe der auf der Erde
befindlichen Koͤrper gegen einander gar wohl ſtatt finden kann, wenn
auch die ganze Erde mit allen dieſen Koͤrpern ſich fortbewegt. Wollen
wir wiſſen, ob die ganze Erde ſich bewegt, ſo muͤſſen wir (wenn ich
den von dem vorhin betrachteten Falle entlehnten Ausdruck hier ge-

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[26/0048] uns belehren, daß dieſe Entſcheidung nicht immer ſo leicht iſt, und daß wir ſehr oft eine ſcheinbare Bewegung wahrnehmen, wo doch Ruhe ſtatt findet, und daß Koͤrper uns zu ruhen ſcheinen, die ſich doch wirklich bewegen. Wenn wir in dem untern Raume eines ſehr gleichfoͤrmig fortgehenden Schiffes ſitzen, ſo bemerken wir es oft gar nicht, daß wir mit allen uns zunaͤchſt umgebenden Koͤrpern fortbe- wegt werden, und wir halten den Tiſch, an welchem wir ſitzen, die Waͤnde, die uns umgeben, fuͤr ruhend, weil alle dieſe Gegenſtaͤnde unter ſich und gegen uns ſelbſt eine ungeaͤnderte Lage behalten. Alle dieſe einzelnen Koͤrper ſind relativ gegen einander ruhend, indem ſie ihre gegenſeitige Lage nicht aͤndern, und dies verleitet uns, ſie fuͤr abſolut ruhend zu halten, ſo lange wir ſie nicht mit der Lage andrer Koͤrper vergleichen, die an der Bewegung jener im Schiffe befindlichen Koͤrper nicht Theil nehmen. Befinden wir uns ſo in der Kajuͤte des Schiffes in voͤlliger vermeinter Ruhe, und blicken nun zum Fenſter hinaus auf die hinter uns zuruͤckbleibenden im Waſſer ſchwimmenden Koͤrper, ſo ſind wir geneigt zu glauben, dieſe gingen in raſchem Strome zuruͤckeilend, an uns vorbei, ja dieſe Taͤuſchung findet ſelbſt noch ſtatt, wenn wir auf das Ufer blicken, und obgleich wir wiſſen, daß die Baͤume und Haͤuſer am Ufer nicht auf dieſe Weiſe zuruͤcklaufen, ſo koͤnnen wir doch dem ſinnlichen Eindrucke, als ob es ſo ſei, kaum widerſtehen. Eben dieſe Taͤuſchung empfinden wir beim ſchnellen Fahren im Wagen und in vielen andern Faͤllen, und wir lernen dadurch, daß unſer Urtheil uͤber die Bewegung oder Ruhe durch unſre eigne Bewegung ſehr unſicher wird. Iſt es alſo wahr, was die Aſtronomen behaupten, daß die Erde mit großer Schnelligkeit eine Bahn um die Sonne durchlaͤuft, und zugleich taͤg- lich eine Umdrehung um ihre eigne Axe vollendet, ſo iſt es einleuch- tend, daß uns dieſe Bewegung durch keinen auf der Erde befindlichen Gegenſtand merklich werden kann, indem Land und Waſſer, Berge und Staͤdte, in eben der gegenſeitigen Lage verharrend, und eben die Lage gegen uns, wenn wir auf der Erde ſtill ſtehen, behaltend, mit fortgefuͤhrt werden, daß alſo dieſe relative Ruhe der auf der Erde befindlichen Koͤrper gegen einander gar wohl ſtatt finden kann, wenn auch die ganze Erde mit allen dieſen Koͤrpern ſich fortbewegt. Wollen wir wiſſen, ob die ganze Erde ſich bewegt, ſo muͤſſen wir (wenn ich den von dem vorhin betrachteten Falle entlehnten Ausdruck hier ge-

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/48>, abgerufen am 21.11.2024.