Wirth nicht sagen konnte, wenn wir zurückkämen, noch welchen Weg wir genommen, wieder nach Haus kehren, ohne ihr liebes Kind gesehen zu haben. Sie hatte mir mein N. Testament und etliche Hembder gebracht, und dem Wirth befohlen mir's nachzuschi- cken, falls ich nicht wieder auf Schaffhausen käme. O die gute Mutter! Es war eine kleine Busse für ihren Unglauben; sie wollte dem Vater nicht trauen, daß er mich angetroffen, sondern mit eignen Augen sehen, und erst dann glauben. Ganz trostlos, und unter tausend Thränen soll sie wieder von Schaff- hausen heimgegangen seyn. Dieß schrieb mir, auf ihr Ansuchen, bald darauf, Herr Schulmeister Am Bühl zu Wattweil, mit dem Beyfügen: Sie lasse mir, da sie keine Hoffnung habe mich jemals wieder zu sehen, hiemit ihr letztes Lebewohl sagen, und gebe mir ihren Segen. Es war ein sehr schöner Brief, er rührte mich innig. Unter anderm stand auch dar- inn: Als das Gerücht in meine Heimath gekommen, ich müsse über Meer, hätten meine jungen Schwe- sterchen all' ihr armes Gewändlin dahingeben wollen, mich loszukaufen; die Mutter deßgleichen. Damals waren ihrer neun Geschwisterte bey Hause. Man sollte denken, das wären ihrer doch noch genug. Aber eine rechte Mutter will keins verlieren, denn keins ist das andre. Wirklich war sie drey Wo- chen vorher noch im Kindbeth gelegen, und kaum auf- gestanden, als sie meinetwegen auf Schaffhausen kam. O die Mütter, die Mütter!
Wirth nicht ſagen konnte, wenn wir zuruͤckkaͤmen, noch welchen Weg wir genommen, wieder nach Haus kehren, ohne ihr liebes Kind geſehen zu haben. Sie hatte mir mein N. Teſtament und etliche Hembder gebracht, und dem Wirth befohlen mir’s nachzuſchi- cken, falls ich nicht wieder auf Schaffhauſen kaͤme. O die gute Mutter! Es war eine kleine Buſſe fuͤr ihren Unglauben; ſie wollte dem Vater nicht trauen, daß er mich angetroffen, ſondern mit eignen Augen ſehen, und erſt dann glauben. Ganz troſtlos, und unter tauſend Thraͤnen ſoll ſie wieder von Schaff- hauſen heimgegangen ſeyn. Dieß ſchrieb mir, auf ihr Anſuchen, bald darauf, Herr Schulmeiſter Am Buͤhl zu Wattweil, mit dem Beyfuͤgen: Sie laſſe mir, da ſie keine Hoffnung habe mich jemals wieder zu ſehen, hiemit ihr letztes Lebewohl ſagen, und gebe mir ihren Segen. Es war ein ſehr ſchoͤner Brief, er ruͤhrte mich innig. Unter anderm ſtand auch dar- inn: Als das Geruͤcht in meine Heimath gekommen, ich muͤſſe uͤber Meer, haͤtten meine jungen Schwe- ſterchen all’ ihr armes Gewaͤndlin dahingeben wollen, mich loszukaufen; die Mutter deßgleichen. Damals waren ihrer neun Geſchwiſterte bey Hauſe. Man ſollte denken, das waͤren ihrer doch noch genug. Aber eine rechte Mutter will keins verlieren, denn keins iſt das andre. Wirklich war ſie drey Wo- chen vorher noch im Kindbeth gelegen, und kaum auf- geſtanden, als ſie meinetwegen auf Schaffhauſen kam. O die Muͤtter, die Muͤtter!
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Wirth nicht ſagen konnte, wenn wir zuruͤckkaͤmen,
noch welchen Weg wir genommen, wieder nach Haus
kehren, ohne ihr liebes Kind geſehen zu haben. Sie
hatte mir mein N. Teſtament und etliche Hembder
gebracht, und dem Wirth befohlen mir’s nachzuſchi-
cken, falls ich nicht wieder auf Schaffhauſen kaͤme.
O die gute Mutter! Es war eine kleine Buſſe fuͤr
ihren Unglauben; ſie wollte dem Vater nicht trauen,
daß er mich angetroffen, ſondern mit eignen Augen
ſehen, und erſt dann glauben. Ganz troſtlos, und
unter tauſend Thraͤnen ſoll ſie wieder von Schaff-
hauſen heimgegangen ſeyn. Dieß ſchrieb mir, auf
ihr Anſuchen, bald darauf, Herr Schulmeiſter Am
Buͤhl zu Wattweil, mit dem Beyfuͤgen: Sie laſſe
mir, da ſie keine Hoffnung habe mich jemals wieder
zu ſehen, hiemit ihr letztes Lebewohl ſagen, und gebe
mir ihren Segen. Es war ein ſehr ſchoͤner Brief,
er ruͤhrte mich innig. Unter anderm ſtand auch dar-
inn: Als das Geruͤcht in meine Heimath gekommen,
ich muͤſſe uͤber Meer, haͤtten meine jungen Schwe-
ſterchen all’ ihr armes Gewaͤndlin dahingeben wollen,
mich loszukaufen; die Mutter deßgleichen. Damals
waren ihrer neun Geſchwiſterte bey Hauſe. Man
ſollte denken, das waͤren ihrer doch noch genug.
Aber eine rechte Mutter will keins verlieren, denn
keins iſt das andre. Wirklich war ſie drey Wo-
chen vorher noch im Kindbeth gelegen, und kaum auf-
geſtanden, als ſie meinetwegen auf Schaffhauſen
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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/116>, abgerufen am 23.11.2024.
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