Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_092.001
Parallelreim, Kettenreim, als ganzer Satzreim (wie in pbo_092.002
der Gasele), als Echo und dergl., sowie ihre besondere lautliche pbo_092.003
Ausgestaltung, wie die poetische Situation und die Laune des pbo_092.004
Dichters sie eingeben mag, gehört keineswegs mehr in die allgemeine pbo_092.005
poetische Theorie. Was rein noch freies Phantasiespiel sein pbo_092.006
soll und nur als solches anmutig wirkt, kann nur pedantische Verkehrtheit pbo_092.007
in lächerliche Begriffe packen wollen. Ueberdies leistet pbo_092.008
sie dadurch dem nicht erst zu ermunternden leeren Spieltrieb pbo_092.009
im menschlichen Geiste Vorschub, der darin, wie die pbo_092.010
Litteraturgeschichte lehrt, leicht über jede erlaubte Grenze geht. pbo_092.011
Ganz das Gleiche gilt von der kindlichen Formenspielerei, pbo_092.012
die sich der künstlichen Strophenbildung durch das billige Mittel pbo_092.013
bloßer Reimveränderung bemächtigt hat.

pbo_092.014
Zumal der Refrain (Kehrreim), dem ganz kunstlosen pbo_092.015
Volksgesange entlehnt (wo er als stehend wiederkehrender Vers pbo_092.016
gewisse Grundempfindungen des Liedes gegenwärtig zu halten pbo_092.017
hat), gerade dies ganz freie, zwanglose Stimmungsmittel spielt pbo_092.018
hier als steifer Zeremonienmeister des Strophenganges eine pbo_092.019
große Rolle (Vergl. Sechstinne, Rondeau und dergl.). Wir pbo_092.020
verweisen für alle diese Formen und Unformen, welchen Landesmoden pbo_092.021
sie nun ihren Ursprung verdanken mögen, auf die jeweiligen pbo_092.022
Kapitel der Litteraturgeschichte, die sich mit ihnen zu pbo_092.023
beschäftigen hat. Hier wollen wir nur wenige besonders glücklich pbo_092.024
getroffene Anlagen der Reimstrophe anführen, welche zugleich pbo_092.025
durch ihre Rolle in der Geschichte der Dichtung ganz pbo_092.026
unverhältnismäßig über den übrigen Formenkram hervorragen.

pbo_092.027
§ 60. Reimstrophen.

pbo_092.028
Das Sonett, eine Strophendreiheit im Geiste der pbo_092.029
antiken chorischen Strophen. Zwei parallele vierzeilige Strophen pbo_092.030
(quatrains) schließt eine durch neue Reime in sich verschränkte

pbo_092.001
Parallelreim, Kettenreim, als ganzer Satzreim (wie in pbo_092.002
der Gasele), als Echo und dergl., sowie ihre besondere lautliche pbo_092.003
Ausgestaltung, wie die poetische Situation und die Laune des pbo_092.004
Dichters sie eingeben mag, gehört keineswegs mehr in die allgemeine pbo_092.005
poetische Theorie. Was rein noch freies Phantasiespiel sein pbo_092.006
soll und nur als solches anmutig wirkt, kann nur pedantische Verkehrtheit pbo_092.007
in lächerliche Begriffe packen wollen. Ueberdies leistet pbo_092.008
sie dadurch dem nicht erst zu ermunternden leeren Spieltrieb pbo_092.009
im menschlichen Geiste Vorschub, der darin, wie die pbo_092.010
Litteraturgeschichte lehrt, leicht über jede erlaubte Grenze geht. pbo_092.011
Ganz das Gleiche gilt von der kindlichen Formenspielerei, pbo_092.012
die sich der künstlichen Strophenbildung durch das billige Mittel pbo_092.013
bloßer Reimveränderung bemächtigt hat.

pbo_092.014
Zumal der Refrain (Kehrreim), dem ganz kunstlosen pbo_092.015
Volksgesange entlehnt (wo er als stehend wiederkehrender Vers pbo_092.016
gewisse Grundempfindungen des Liedes gegenwärtig zu halten pbo_092.017
hat), gerade dies ganz freie, zwanglose Stimmungsmittel spielt pbo_092.018
hier als steifer Zeremonienmeister des Strophenganges eine pbo_092.019
große Rolle (Vergl. Sechstinne, Rondeau und dergl.). Wir pbo_092.020
verweisen für alle diese Formen und Unformen, welchen Landesmoden pbo_092.021
sie nun ihren Ursprung verdanken mögen, auf die jeweiligen pbo_092.022
Kapitel der Litteraturgeschichte, die sich mit ihnen zu pbo_092.023
beschäftigen hat. Hier wollen wir nur wenige besonders glücklich pbo_092.024
getroffene Anlagen der Reimstrophe anführen, welche zugleich pbo_092.025
durch ihre Rolle in der Geschichte der Dichtung ganz pbo_092.026
unverhältnismäßig über den übrigen Formenkram hervorragen.

pbo_092.027
§ 60. Reimstrophen.

pbo_092.028
Das Sonett, eine Strophendreiheit im Geiste der pbo_092.029
antiken chorischen Strophen. Zwei parallele vierzeilige Strophen pbo_092.030
(quatrains) schließt eine durch neue Reime in sich verschränkte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0096" n="92"/><lb n="pbo_092.001"/>
Parallelreim, Kettenreim, als ganzer Satzreim (wie in <lb n="pbo_092.002"/>
der Gasele), als Echo und dergl., sowie ihre besondere lautliche <lb n="pbo_092.003"/>
Ausgestaltung, wie die poetische Situation und die Laune des <lb n="pbo_092.004"/>
Dichters sie eingeben mag, gehört keineswegs mehr in die allgemeine <lb n="pbo_092.005"/>
poetische Theorie. Was rein noch freies Phantasiespiel sein <lb n="pbo_092.006"/>
soll und nur als solches anmutig wirkt, kann nur pedantische Verkehrtheit <lb n="pbo_092.007"/>
in lächerliche Begriffe packen wollen. Ueberdies leistet <lb n="pbo_092.008"/>
sie dadurch dem nicht erst zu ermunternden <hi rendition="#g">leeren</hi> Spieltrieb <lb n="pbo_092.009"/>
im menschlichen Geiste Vorschub, der darin, wie die <lb n="pbo_092.010"/>
Litteraturgeschichte lehrt, leicht über jede erlaubte Grenze geht. <lb n="pbo_092.011"/>
Ganz das Gleiche gilt von der kindlichen Formenspielerei, <lb n="pbo_092.012"/>
die sich der künstlichen Strophenbildung durch das billige Mittel <lb n="pbo_092.013"/>
bloßer Reimveränderung bemächtigt hat.</p>
              <p><lb n="pbo_092.014"/>
Zumal der <hi rendition="#g">Refrain</hi> (Kehrreim), dem ganz kunstlosen <lb n="pbo_092.015"/>
Volksgesange entlehnt (wo er als stehend wiederkehrender Vers <lb n="pbo_092.016"/>
gewisse Grundempfindungen des Liedes gegenwärtig zu halten <lb n="pbo_092.017"/>
hat), gerade dies ganz freie, zwanglose Stimmungsmittel spielt <lb n="pbo_092.018"/>
hier als steifer Zeremonienmeister des Strophenganges eine <lb n="pbo_092.019"/>
große Rolle (Vergl. Sechstinne, Rondeau und dergl.). Wir <lb n="pbo_092.020"/>
verweisen für alle diese Formen und Unformen, welchen Landesmoden <lb n="pbo_092.021"/>
sie nun ihren Ursprung verdanken mögen, auf die jeweiligen <lb n="pbo_092.022"/>
Kapitel der Litteraturgeschichte, die sich mit ihnen zu <lb n="pbo_092.023"/>
beschäftigen hat. Hier wollen wir nur wenige besonders glücklich <lb n="pbo_092.024"/>
getroffene Anlagen der Reimstrophe anführen, welche zugleich <lb n="pbo_092.025"/>
durch ihre Rolle in der Geschichte der Dichtung ganz <lb n="pbo_092.026"/>
unverhältnismäßig über den übrigen Formenkram hervorragen.</p>
              <lb n="pbo_092.027"/>
            </div>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c">§ 60. Reimstrophen.</hi> </head>
              <p><lb n="pbo_092.028"/><hi rendition="#g">Das Sonett,</hi> eine Strophendreiheit im Geiste der <lb n="pbo_092.029"/>
antiken chorischen Strophen. Zwei parallele vierzeilige Strophen <lb n="pbo_092.030"/>
(quatrains) schließt eine durch neue Reime in sich verschränkte
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0096] pbo_092.001 Parallelreim, Kettenreim, als ganzer Satzreim (wie in pbo_092.002 der Gasele), als Echo und dergl., sowie ihre besondere lautliche pbo_092.003 Ausgestaltung, wie die poetische Situation und die Laune des pbo_092.004 Dichters sie eingeben mag, gehört keineswegs mehr in die allgemeine pbo_092.005 poetische Theorie. Was rein noch freies Phantasiespiel sein pbo_092.006 soll und nur als solches anmutig wirkt, kann nur pedantische Verkehrtheit pbo_092.007 in lächerliche Begriffe packen wollen. Ueberdies leistet pbo_092.008 sie dadurch dem nicht erst zu ermunternden leeren Spieltrieb pbo_092.009 im menschlichen Geiste Vorschub, der darin, wie die pbo_092.010 Litteraturgeschichte lehrt, leicht über jede erlaubte Grenze geht. pbo_092.011 Ganz das Gleiche gilt von der kindlichen Formenspielerei, pbo_092.012 die sich der künstlichen Strophenbildung durch das billige Mittel pbo_092.013 bloßer Reimveränderung bemächtigt hat. pbo_092.014 Zumal der Refrain (Kehrreim), dem ganz kunstlosen pbo_092.015 Volksgesange entlehnt (wo er als stehend wiederkehrender Vers pbo_092.016 gewisse Grundempfindungen des Liedes gegenwärtig zu halten pbo_092.017 hat), gerade dies ganz freie, zwanglose Stimmungsmittel spielt pbo_092.018 hier als steifer Zeremonienmeister des Strophenganges eine pbo_092.019 große Rolle (Vergl. Sechstinne, Rondeau und dergl.). Wir pbo_092.020 verweisen für alle diese Formen und Unformen, welchen Landesmoden pbo_092.021 sie nun ihren Ursprung verdanken mögen, auf die jeweiligen pbo_092.022 Kapitel der Litteraturgeschichte, die sich mit ihnen zu pbo_092.023 beschäftigen hat. Hier wollen wir nur wenige besonders glücklich pbo_092.024 getroffene Anlagen der Reimstrophe anführen, welche zugleich pbo_092.025 durch ihre Rolle in der Geschichte der Dichtung ganz pbo_092.026 unverhältnismäßig über den übrigen Formenkram hervorragen. pbo_092.027 § 60. Reimstrophen. pbo_092.028 Das Sonett, eine Strophendreiheit im Geiste der pbo_092.029 antiken chorischen Strophen. Zwei parallele vierzeilige Strophen pbo_092.030 (quatrains) schließt eine durch neue Reime in sich verschränkte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/96
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/96>, abgerufen am 06.05.2024.