Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_020.001 pbo_020.005 pbo_020.016 *) pbo_020.031
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Das neuere Volkslied. pbo_020.001 pbo_020.005 pbo_020.016 *) pbo_020.031
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Das neuere Volkslied. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0024" n="20"/><lb n="pbo_020.001"/> der historischen Menschheit nichts gemein, so <lb n="pbo_020.002"/> wenig die Gassenhauer der modernen Großstädte etwas mit <lb n="pbo_020.003"/> dem Volksliede gesunder, tüchtiger, einfacher Geschlechter zu <lb n="pbo_020.004"/> thun haben. Hier ist überall Entartung, nicht Natur.</p> <p><lb n="pbo_020.005"/> Die Naturdichtung, wie jede Naturkunst, charakterisiert <lb n="pbo_020.006"/> im Gegenteil die Richtung auf das Erhabenste und Reinste, <lb n="pbo_020.007"/> was der Menschengeist zu fassen vermag. Die Urpoesie deckt <lb n="pbo_020.008"/> sich mit dem Begriff der Urreligion. Homer hat den Griechen <lb n="pbo_020.009"/> ihre Götter gegeben, und dem Dichter des Altertums blieb <lb n="pbo_020.010"/> bis ans Ende der Name des Sehers, des Propheten (vates). <lb n="pbo_020.011"/> Auch die neuere Naturpoesie offenbart im Volkslied<note corresp="PBO_020_*" place="foot" n="*)"><lb n="pbo_020.031"/><choice><sic>Vergl..</sic><corr>Vergl.</corr></choice><hi rendition="#g">Sammlung Göschen</hi> Nr. 25. Das neuere Volkslied.</note>, im <lb n="pbo_020.012"/> Märchen, im Spruch bei aller Schlichtheit die tiefsten und <lb n="pbo_020.013"/> weitesten Bezüge des Menschengeistes. Das giebt diesen Gebilden <lb n="pbo_020.014"/> ihren durch nichts zu ersetzenden Zauber, die ursprüngliche, <lb n="pbo_020.015"/> noch unverfälschte, unentweihte Frische des Empfindens.</p> <p><lb n="pbo_020.016"/> Selbst in der gegenwärtigen, auf die Aufregungssucht <lb n="pbo_020.017"/> und Banalität des Pöbels spekulierenden Unterhaltungslitteratur <lb n="pbo_020.018"/> der Menge (früher Ritter- und Räuber-, jetzt meist <lb n="pbo_020.019"/> Kriminalgeschichten) zeigt sich höchst auffällig ein falsches, <lb n="pbo_020.020"/> übertriebenes Bedürfnis, zu idealisieren, die Tugend riesengroß, <lb n="pbo_020.021"/> die Unschuld engelrein, die Bosheit teuflisch geschildert zu <lb n="pbo_020.022"/> sehen (Schillers Volksstücke: Die Räuber, Kabale und Liebe). <lb n="pbo_020.023"/> Aehnliches läßt sich von dem sittlich unanstößigen, aber künstlerisch <lb n="pbo_020.024"/> bedeutungslosen Unterhaltungsstoff der mittleren Stände <lb n="pbo_020.025"/> bemerken (Familienstücke, „Gartenlauberomane“). Die Frivolität <lb n="pbo_020.026"/> des Bildungspöbels überkultivierter Zeiten mit Schaustellungen <lb n="pbo_020.027"/> seiner geistverlassenen Trivialität, cynischen Roheit <lb n="pbo_020.028"/> und skrupellosen Gemeinheit zu ködern, kann wohl <hi rendition="#g">Naturalismus</hi> <lb n="pbo_020.029"/> heißen (im Sinne eines Jrrtums der künstlerischen <lb n="pbo_020.030"/> Naturanschauung vgl. oben), niemals aber <hi rendition="#g">Natur.</hi></p> <p> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0024]
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der historischen Menschheit nichts gemein, so pbo_020.002
wenig die Gassenhauer der modernen Großstädte etwas mit pbo_020.003
dem Volksliede gesunder, tüchtiger, einfacher Geschlechter zu pbo_020.004
thun haben. Hier ist überall Entartung, nicht Natur.
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Die Naturdichtung, wie jede Naturkunst, charakterisiert pbo_020.006
im Gegenteil die Richtung auf das Erhabenste und Reinste, pbo_020.007
was der Menschengeist zu fassen vermag. Die Urpoesie deckt pbo_020.008
sich mit dem Begriff der Urreligion. Homer hat den Griechen pbo_020.009
ihre Götter gegeben, und dem Dichter des Altertums blieb pbo_020.010
bis ans Ende der Name des Sehers, des Propheten (vates). pbo_020.011
Auch die neuere Naturpoesie offenbart im Volkslied *), im pbo_020.012
Märchen, im Spruch bei aller Schlichtheit die tiefsten und pbo_020.013
weitesten Bezüge des Menschengeistes. Das giebt diesen Gebilden pbo_020.014
ihren durch nichts zu ersetzenden Zauber, die ursprüngliche, pbo_020.015
noch unverfälschte, unentweihte Frische des Empfindens.
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Selbst in der gegenwärtigen, auf die Aufregungssucht pbo_020.017
und Banalität des Pöbels spekulierenden Unterhaltungslitteratur pbo_020.018
der Menge (früher Ritter- und Räuber-, jetzt meist pbo_020.019
Kriminalgeschichten) zeigt sich höchst auffällig ein falsches, pbo_020.020
übertriebenes Bedürfnis, zu idealisieren, die Tugend riesengroß, pbo_020.021
die Unschuld engelrein, die Bosheit teuflisch geschildert zu pbo_020.022
sehen (Schillers Volksstücke: Die Räuber, Kabale und Liebe). pbo_020.023
Aehnliches läßt sich von dem sittlich unanstößigen, aber künstlerisch pbo_020.024
bedeutungslosen Unterhaltungsstoff der mittleren Stände pbo_020.025
bemerken (Familienstücke, „Gartenlauberomane“). Die Frivolität pbo_020.026
des Bildungspöbels überkultivierter Zeiten mit Schaustellungen pbo_020.027
seiner geistverlassenen Trivialität, cynischen Roheit pbo_020.028
und skrupellosen Gemeinheit zu ködern, kann wohl Naturalismus pbo_020.029
heißen (im Sinne eines Jrrtums der künstlerischen pbo_020.030
Naturanschauung vgl. oben), niemals aber Natur.
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Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Das neuere Volkslied.
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