Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_012.001 pbo_012.019 § 5. Das Temperament und die geistigen Gegensätze. pbo_012.020 pbo_012.001 pbo_012.019 § 5. Das Temperament und die geistigen Gegensätze. pbo_012.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0016" n="12"/><lb n="pbo_012.001"/> als <hi rendition="#g">Vernunft</hi> angesprochen wird. Wenn dem Dichter in <lb n="pbo_012.002"/> seiner alles verkörpernden, das Ueberschwengliche und Unmögliche <lb n="pbo_012.003"/> begreifenden Phantasie eine verhängnißvolle Gabe vor <lb n="pbo_012.004"/> allen zu Teil ward, so ward ihm entsprechend ihrer Höhe <lb n="pbo_012.005"/> auch das Gegenmittel einer unbestechlichen, alles ordnenden <lb n="pbo_012.006"/> und zurechtsetzenden Vernunft. Wo diese richtende, einschränkende <lb n="pbo_012.007"/> Vernunft fehlt oder von eigenwilliger, launischer, <lb n="pbo_012.008"/> modischer Phantastik überwuchert wird, da fehlt eben auch <lb n="pbo_012.009"/> nach unserer Schätzung die geniale Qualifikation, oder sie <lb n="pbo_012.010"/> ward eben dadurch zu nichte gemacht (Stürmer und Dränger, <lb n="pbo_012.011"/> „Originalgenies“, Naturen wie in Deutschland Lenz, Grabbe <lb n="pbo_012.012"/> u. a.). Daß Krankheit, Schicksal, Schuld den Dichter wie <lb n="pbo_012.013"/> jeden andern Sterblichen dem Wahnsinn überliefern können, <lb n="pbo_012.014"/> beweist nicht im mindesten, daß er als Dichter wahnsinnig <lb n="pbo_012.015"/> werden muß. Alle in diesem Sinne angestellten Sammlungen <lb n="pbo_012.016"/> von Anekdoten, Zügen aus dem Leben genialer <lb n="pbo_012.017"/> Menschen, Statistiken u. dgl. sind unter dem angegebenen <lb n="pbo_012.018"/> Gesichtspunkt zu beurteilen.</p> </div> <div n="4"> <lb n="pbo_012.019"/> <head> <hi rendition="#c">§ 5. Das Temperament und die geistigen Gegensätze.</hi> </head> <p><lb n="pbo_012.020"/> Entsprechend ihrem Charakter als allgemein geistige <lb n="pbo_012.021"/> Grundfähigkeit wird die Dichtung in ihrer Erscheinungsweise <lb n="pbo_012.022"/> auch alle Grundgegensätze der menschlichen Natur besonders <lb n="pbo_012.023"/> kenntlich zum Ausdruck bringen. Zunächst treten die Temperamentsunterschiede <lb n="pbo_012.024"/> hervor. Die großen Gegensätze des <lb n="pbo_012.025"/> <hi rendition="#g">Tragischen</hi> und des <hi rendition="#g">Komischen,</hi> des <hi rendition="#g">Pathetischen</hi> und <lb n="pbo_012.026"/> des <hi rendition="#g">Jdyllischen,</hi> des <hi rendition="#g">Jubilierenden</hi> und des <hi rendition="#g">Elegischen,</hi> <lb n="pbo_012.027"/> des Satirischen und des Panegyrischen spiegeln die <lb n="pbo_012.028"/> Grundstimmungen der Temperamente, des melancholischen und <lb n="pbo_012.029"/> sanguinischen, des cholerischen und phlegmatischen, in wechselnder <lb n="pbo_012.030"/> Bedeutung wieder.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [12/0016]
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als Vernunft angesprochen wird. Wenn dem Dichter in pbo_012.002
seiner alles verkörpernden, das Ueberschwengliche und Unmögliche pbo_012.003
begreifenden Phantasie eine verhängnißvolle Gabe vor pbo_012.004
allen zu Teil ward, so ward ihm entsprechend ihrer Höhe pbo_012.005
auch das Gegenmittel einer unbestechlichen, alles ordnenden pbo_012.006
und zurechtsetzenden Vernunft. Wo diese richtende, einschränkende pbo_012.007
Vernunft fehlt oder von eigenwilliger, launischer, pbo_012.008
modischer Phantastik überwuchert wird, da fehlt eben auch pbo_012.009
nach unserer Schätzung die geniale Qualifikation, oder sie pbo_012.010
ward eben dadurch zu nichte gemacht (Stürmer und Dränger, pbo_012.011
„Originalgenies“, Naturen wie in Deutschland Lenz, Grabbe pbo_012.012
u. a.). Daß Krankheit, Schicksal, Schuld den Dichter wie pbo_012.013
jeden andern Sterblichen dem Wahnsinn überliefern können, pbo_012.014
beweist nicht im mindesten, daß er als Dichter wahnsinnig pbo_012.015
werden muß. Alle in diesem Sinne angestellten Sammlungen pbo_012.016
von Anekdoten, Zügen aus dem Leben genialer pbo_012.017
Menschen, Statistiken u. dgl. sind unter dem angegebenen pbo_012.018
Gesichtspunkt zu beurteilen.
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§ 5. Das Temperament und die geistigen Gegensätze. pbo_012.020
Entsprechend ihrem Charakter als allgemein geistige pbo_012.021
Grundfähigkeit wird die Dichtung in ihrer Erscheinungsweise pbo_012.022
auch alle Grundgegensätze der menschlichen Natur besonders pbo_012.023
kenntlich zum Ausdruck bringen. Zunächst treten die Temperamentsunterschiede pbo_012.024
hervor. Die großen Gegensätze des pbo_012.025
Tragischen und des Komischen, des Pathetischen und pbo_012.026
des Jdyllischen, des Jubilierenden und des Elegischen, pbo_012.027
des Satirischen und des Panegyrischen spiegeln die pbo_012.028
Grundstimmungen der Temperamente, des melancholischen und pbo_012.029
sanguinischen, des cholerischen und phlegmatischen, in wechselnder pbo_012.030
Bedeutung wieder.
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