Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_096.001
haben sie unserem Jahrhundert noch umfassender nahe gebracht. pbo_096.002
Das Reimschema der gleichfalls für gewöhnlich im fünffüßigen pbo_096.003
Jambus auftretenden Strophe giebt die sechs Verse der beiden pbo_096.004
Terzinen fest in sich gebunden und fügt als vollständigen Abschluß pbo_096.005
noch zwei neu mit sich reimende Versreihen an. Dies pbo_096.006
also ist der Typus:

pbo_096.007
a b a b a b c c.
pbo_096.008
Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte pbo_096.009
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pbo_096.010
Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte pbo_096.011
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pbo_096.012
Jch freute mich bei einem jeden Schritte pbo_096.013
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; pbo_096.014
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pbo_096.015
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
pbo_096.016

(Goethe, Zueignung zu den Gedichten.)

pbo_096.017
Es fällt auf, daß die Stanze im Norden mannigfachen pbo_096.018
Variationen ausgesetzt gewesen ist, so daß es fast den Anschein pbo_096.019
gewinnt, als ob das nordische Ohr bei längerer Dauer dem pbo_096.020
immer gleichen Anfluten der strengen Ottaverime Widerstand pbo_096.021
entgegensetze. Wieland und Schiller haben sowohl in der pbo_096.022
Länge der Versreihe als in der Folge der Reimung Abweichungen pbo_096.023
eintreten lassen, so daß nur die achtreihige dreimal pbo_096.024
gereimte Strophe als ihr Schema erscheint. Doch kehrt der pbo_096.025
Stanzentypus in der Reimung immer wieder, so daß er durch pbo_096.026
die Veränderungen hindurchschimmert. Goethe hat ein großangelegtes pbo_096.027
Gedicht in strengen Stanzen (die Geheimnisse) angefangen, pbo_096.028
doch nicht beendet. Eine ganz freie Abart, für die pbo_096.029
die Stanze nur den Ausgang abgiebt, bildete sich in England, pbo_096.030
wo Spencer im 16. Jh. einer neunzeiligen, mit einem Alexandriner

pbo_096.001
haben sie unserem Jahrhundert noch umfassender nahe gebracht. pbo_096.002
Das Reimschema der gleichfalls für gewöhnlich im fünffüßigen pbo_096.003
Jambus auftretenden Strophe giebt die sechs Verse der beiden pbo_096.004
Terzinen fest in sich gebunden und fügt als vollständigen Abschluß pbo_096.005
noch zwei neu mit sich reimende Versreihen an. Dies pbo_096.006
also ist der Typus:

pbo_096.007
a b a b a b c c.
pbo_096.008
Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte pbo_096.009
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pbo_096.010
Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte pbo_096.011
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pbo_096.012
Jch freute mich bei einem jeden Schritte pbo_096.013
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; pbo_096.014
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pbo_096.015
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
pbo_096.016

(Goethe, Zueignung zu den Gedichten.)

pbo_096.017
Es fällt auf, daß die Stanze im Norden mannigfachen pbo_096.018
Variationen ausgesetzt gewesen ist, so daß es fast den Anschein pbo_096.019
gewinnt, als ob das nordische Ohr bei längerer Dauer dem pbo_096.020
immer gleichen Anfluten der strengen Ottaverime Widerstand pbo_096.021
entgegensetze. Wieland und Schiller haben sowohl in der pbo_096.022
Länge der Versreihe als in der Folge der Reimung Abweichungen pbo_096.023
eintreten lassen, so daß nur die achtreihige dreimal pbo_096.024
gereimte Strophe als ihr Schema erscheint. Doch kehrt der pbo_096.025
Stanzentypus in der Reimung immer wieder, so daß er durch pbo_096.026
die Veränderungen hindurchschimmert. Goethe hat ein großangelegtes pbo_096.027
Gedicht in strengen Stanzen (die Geheimnisse) angefangen, pbo_096.028
doch nicht beendet. Eine ganz freie Abart, für die pbo_096.029
die Stanze nur den Ausgang abgiebt, bildete sich in England, pbo_096.030
wo Spencer im 16. Jh. einer neunzeiligen, mit einem Alexandriner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0100" n="96"/><lb n="pbo_096.001"/>
haben sie unserem Jahrhundert noch umfassender nahe gebracht. <lb n="pbo_096.002"/>
Das Reimschema der gleichfalls für gewöhnlich im fünffüßigen <lb n="pbo_096.003"/>
Jambus auftretenden Strophe giebt die sechs Verse der beiden <lb n="pbo_096.004"/>
Terzinen fest in sich gebunden und fügt als vollständigen Abschluß <lb n="pbo_096.005"/>
noch zwei neu mit sich reimende Versreihen an. Dies <lb n="pbo_096.006"/>
also ist der Typus:</p>
              <lb n="pbo_096.007"/>
              <lg>
                <l>a b a b a b c c. </l>
              </lg>
              <lb n="pbo_096.008"/>
              <lg type="poem">
                <l>Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte </l>
                <lb n="pbo_096.009"/>
                <l>Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,</l>
                <lb n="pbo_096.010"/>
                <l>Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte </l>
                <lb n="pbo_096.011"/>
                <l>Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; </l>
                <lb n="pbo_096.012"/>
                <l>Jch freute mich bei einem jeden Schritte</l>
                <lb n="pbo_096.013"/>
                <l>Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; </l>
                <lb n="pbo_096.014"/>
                <l>Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, </l>
                <lb n="pbo_096.015"/>
                <l>Und alles war erquickt, mich zu erquicken.</l>
              </lg>
              <lb n="pbo_096.016"/>
              <p>    (Goethe, Zueignung zu den Gedichten.) </p>
              <p><lb n="pbo_096.017"/>
Es fällt auf, daß die Stanze im Norden mannigfachen <lb n="pbo_096.018"/>
Variationen ausgesetzt gewesen ist, so daß es fast den Anschein <lb n="pbo_096.019"/>
gewinnt, als ob das nordische Ohr bei längerer Dauer dem <lb n="pbo_096.020"/>
immer gleichen Anfluten der strengen Ottaverime Widerstand <lb n="pbo_096.021"/>
entgegensetze. Wieland und Schiller haben sowohl in der <lb n="pbo_096.022"/>
Länge der Versreihe als in der Folge der Reimung Abweichungen <lb n="pbo_096.023"/>
eintreten lassen, so daß nur die achtreihige dreimal <lb n="pbo_096.024"/>
gereimte Strophe als ihr Schema erscheint. Doch kehrt der <lb n="pbo_096.025"/>
Stanzentypus in der Reimung immer wieder, so daß er durch <lb n="pbo_096.026"/>
die Veränderungen hindurchschimmert. Goethe hat ein großangelegtes <lb n="pbo_096.027"/>
Gedicht in strengen Stanzen (die Geheimnisse) angefangen, <lb n="pbo_096.028"/>
doch nicht beendet. Eine ganz freie Abart, für die <lb n="pbo_096.029"/>
die Stanze nur den Ausgang abgiebt, bildete sich in England, <lb n="pbo_096.030"/>
wo Spencer im 16. Jh. einer neunzeiligen, mit einem Alexandriner
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0100] pbo_096.001 haben sie unserem Jahrhundert noch umfassender nahe gebracht. pbo_096.002 Das Reimschema der gleichfalls für gewöhnlich im fünffüßigen pbo_096.003 Jambus auftretenden Strophe giebt die sechs Verse der beiden pbo_096.004 Terzinen fest in sich gebunden und fügt als vollständigen Abschluß pbo_096.005 noch zwei neu mit sich reimende Versreihen an. Dies pbo_096.006 also ist der Typus: pbo_096.007 a b a b a b c c. pbo_096.008 Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte pbo_096.009 Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pbo_096.010 Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte pbo_096.011 Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pbo_096.012 Jch freute mich bei einem jeden Schritte pbo_096.013 Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; pbo_096.014 Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pbo_096.015 Und alles war erquickt, mich zu erquicken. pbo_096.016 (Goethe, Zueignung zu den Gedichten.) pbo_096.017 Es fällt auf, daß die Stanze im Norden mannigfachen pbo_096.018 Variationen ausgesetzt gewesen ist, so daß es fast den Anschein pbo_096.019 gewinnt, als ob das nordische Ohr bei längerer Dauer dem pbo_096.020 immer gleichen Anfluten der strengen Ottaverime Widerstand pbo_096.021 entgegensetze. Wieland und Schiller haben sowohl in der pbo_096.022 Länge der Versreihe als in der Folge der Reimung Abweichungen pbo_096.023 eintreten lassen, so daß nur die achtreihige dreimal pbo_096.024 gereimte Strophe als ihr Schema erscheint. Doch kehrt der pbo_096.025 Stanzentypus in der Reimung immer wieder, so daß er durch pbo_096.026 die Veränderungen hindurchschimmert. Goethe hat ein großangelegtes pbo_096.027 Gedicht in strengen Stanzen (die Geheimnisse) angefangen, pbo_096.028 doch nicht beendet. Eine ganz freie Abart, für die pbo_096.029 die Stanze nur den Ausgang abgiebt, bildete sich in England, pbo_096.030 wo Spencer im 16. Jh. einer neunzeiligen, mit einem Alexandriner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/100
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/100>, abgerufen am 22.11.2024.