Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_096.001 a b a b a b c c. pbo_096.008Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte pbo_096.009 pbo_096.016Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pbo_096.010 Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte pbo_096.011 Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pbo_096.012 Jch freute mich bei einem jeden Schritte pbo_096.013 Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; pbo_096.014 Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pbo_096.015 Und alles war erquickt, mich zu erquicken. (Goethe, Zueignung zu den Gedichten.) pbo_096.017 pbo_096.001 a b a b a b c c. pbo_096.008Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte pbo_096.009 pbo_096.016Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pbo_096.010 Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte pbo_096.011 Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pbo_096.012 Jch freute mich bei einem jeden Schritte pbo_096.013 Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; pbo_096.014 Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pbo_096.015 Und alles war erquickt, mich zu erquicken. (Goethe, Zueignung zu den Gedichten.) pbo_096.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0100" n="96"/><lb n="pbo_096.001"/> haben sie unserem Jahrhundert noch umfassender nahe gebracht. <lb n="pbo_096.002"/> Das Reimschema der gleichfalls für gewöhnlich im fünffüßigen <lb n="pbo_096.003"/> Jambus auftretenden Strophe giebt die sechs Verse der beiden <lb n="pbo_096.004"/> Terzinen fest in sich gebunden und fügt als vollständigen Abschluß <lb n="pbo_096.005"/> noch zwei neu mit sich reimende Versreihen an. Dies <lb n="pbo_096.006"/> also ist der Typus:</p> <lb n="pbo_096.007"/> <lg> <l>a b a b a b c c. </l> </lg> <lb n="pbo_096.008"/> <lg type="poem"> <l>Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte </l> <lb n="pbo_096.009"/> <l>Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,</l> <lb n="pbo_096.010"/> <l>Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte </l> <lb n="pbo_096.011"/> <l>Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; </l> <lb n="pbo_096.012"/> <l>Jch freute mich bei einem jeden Schritte</l> <lb n="pbo_096.013"/> <l>Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; </l> <lb n="pbo_096.014"/> <l>Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, </l> <lb n="pbo_096.015"/> <l>Und alles war erquickt, mich zu erquicken.</l> </lg> <lb n="pbo_096.016"/> <p> (Goethe, Zueignung zu den Gedichten.) </p> <p><lb n="pbo_096.017"/> Es fällt auf, daß die Stanze im Norden mannigfachen <lb n="pbo_096.018"/> Variationen ausgesetzt gewesen ist, so daß es fast den Anschein <lb n="pbo_096.019"/> gewinnt, als ob das nordische Ohr bei längerer Dauer dem <lb n="pbo_096.020"/> immer gleichen Anfluten der strengen Ottaverime Widerstand <lb n="pbo_096.021"/> entgegensetze. Wieland und Schiller haben sowohl in der <lb n="pbo_096.022"/> Länge der Versreihe als in der Folge der Reimung Abweichungen <lb n="pbo_096.023"/> eintreten lassen, so daß nur die achtreihige dreimal <lb n="pbo_096.024"/> gereimte Strophe als ihr Schema erscheint. Doch kehrt der <lb n="pbo_096.025"/> Stanzentypus in der Reimung immer wieder, so daß er durch <lb n="pbo_096.026"/> die Veränderungen hindurchschimmert. Goethe hat ein großangelegtes <lb n="pbo_096.027"/> Gedicht in strengen Stanzen (die Geheimnisse) angefangen, <lb n="pbo_096.028"/> doch nicht beendet. Eine ganz freie Abart, für die <lb n="pbo_096.029"/> die Stanze nur den Ausgang abgiebt, bildete sich in England, <lb n="pbo_096.030"/> wo Spencer im 16. Jh. einer neunzeiligen, mit einem Alexandriner </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0100]
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haben sie unserem Jahrhundert noch umfassender nahe gebracht. pbo_096.002
Das Reimschema der gleichfalls für gewöhnlich im fünffüßigen pbo_096.003
Jambus auftretenden Strophe giebt die sechs Verse der beiden pbo_096.004
Terzinen fest in sich gebunden und fügt als vollständigen Abschluß pbo_096.005
noch zwei neu mit sich reimende Versreihen an. Dies pbo_096.006
also ist der Typus:
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a b a b a b c c.
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Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte pbo_096.009
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pbo_096.010
Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte pbo_096.011
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pbo_096.012
Jch freute mich bei einem jeden Schritte pbo_096.013
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; pbo_096.014
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pbo_096.015
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
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(Goethe, Zueignung zu den Gedichten.)
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Es fällt auf, daß die Stanze im Norden mannigfachen pbo_096.018
Variationen ausgesetzt gewesen ist, so daß es fast den Anschein pbo_096.019
gewinnt, als ob das nordische Ohr bei längerer Dauer dem pbo_096.020
immer gleichen Anfluten der strengen Ottaverime Widerstand pbo_096.021
entgegensetze. Wieland und Schiller haben sowohl in der pbo_096.022
Länge der Versreihe als in der Folge der Reimung Abweichungen pbo_096.023
eintreten lassen, so daß nur die achtreihige dreimal pbo_096.024
gereimte Strophe als ihr Schema erscheint. Doch kehrt der pbo_096.025
Stanzentypus in der Reimung immer wieder, so daß er durch pbo_096.026
die Veränderungen hindurchschimmert. Goethe hat ein großangelegtes pbo_096.027
Gedicht in strengen Stanzen (die Geheimnisse) angefangen, pbo_096.028
doch nicht beendet. Eine ganz freie Abart, für die pbo_096.029
die Stanze nur den Ausgang abgiebt, bildete sich in England, pbo_096.030
wo Spencer im 16. Jh. einer neunzeiligen, mit einem Alexandriner
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Zitationshilfe: | Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/100>, abgerufen am 31.07.2024. |