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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

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[Gleich. 290] § 91. Wahrscheinlichkeitsrechnung.
dadurch bedingte Abweichungen von den hydrodynamischen,
den Diffusions-, Wärmeleitungsgleichungen u. s. w.) anregt, zu
denen keine andere Theorie die Anregung zu geben vermag.

§ 91. Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung
in der Molekularphysik
.

Es wurde die Erlaubtheit der im Vorhergehenden gemachten
Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Zweifel ge-
zogen. Da sich aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung in so
vielen mehr specielleren Fällen bewährt hat, so sehe ich keinen
Grund ein, warum sie nicht auch auf Naturvorgänge allgemeinerer
Art anwendbar sein sollte. Die Anwendbarkeit der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung auf die Molekularbewegung in Gasen
kann natürlich nicht streng aus den Differentialgleichungen für
die Bewegung ihrer Moleküle hergeleitet werden. Dieselbe
folgt vielmehr aus der grossen Anzahl der Gasmoleküle und
der Länge ihrer Wege, vermöge deren die Beschaffenheit der
Stelle des Gases, wo ein Molekül zum Zusammenstoss gelangt,
völlig unabhängig von der Stelle ist, wo es das vorige Mal
zusammenstiess. Diese Unabhängigkeit könnte sich freilich nur
für eine unendliche Zahl von Gasmolekülen durch eine be-
liebig lange Zeit erhalten. Bei einer endlichen Zahl von
Molekülen, die sich in einem unveränderlichen Gefässe mit
vollkommen glatten, indifferenten Wänden bewegen, wird nie
unbedingt genau und durch alle Zeiten die Maxwell'sche Ge-
schwindigkeitsvertheilung gelten können.1)

In der Praxis aber werden von den Wänden stets Stö-
rungen ausgehen, welche jede durch die endliche Zahl der
Moleküle bedingte Periodicität aufheben. Auf jeden Fall ist
die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die
Gastheorie niemals widerlegt, vielmehr durch die in Aeonen
eintretende Periodicität der Bewegung eines endlichen ab-
geschlossenen Systemes sogar bestätigt worden, und da man
durch dieselbe zu einem allseitig übereinstimmenden, zu Specu-
lationen und Experimenten anregenden Weltbilde gelangt, so
ist sie wohl in der Gastheorie beizubehalten.

1) Von der hier einschlägigen Literatur führe ich nur an:
Loschmidt, Ueber den Zustand des Wärmegleichgewichts eines Systems
17*

[Gleich. 290] § 91. Wahrscheinlichkeitsrechnung.
dadurch bedingte Abweichungen von den hydrodynamischen,
den Diffusions-, Wärmeleitungsgleichungen u. s. w.) anregt, zu
denen keine andere Theorie die Anregung zu geben vermag.

§ 91. Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung
in der Molekularphysik
.

Es wurde die Erlaubtheit der im Vorhergehenden gemachten
Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Zweifel ge-
zogen. Da sich aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung in so
vielen mehr specielleren Fällen bewährt hat, so sehe ich keinen
Grund ein, warum sie nicht auch auf Naturvorgänge allgemeinerer
Art anwendbar sein sollte. Die Anwendbarkeit der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung auf die Molekularbewegung in Gasen
kann natürlich nicht streng aus den Differentialgleichungen für
die Bewegung ihrer Moleküle hergeleitet werden. Dieselbe
folgt vielmehr aus der grossen Anzahl der Gasmoleküle und
der Länge ihrer Wege, vermöge deren die Beschaffenheit der
Stelle des Gases, wo ein Molekül zum Zusammenstoss gelangt,
völlig unabhängig von der Stelle ist, wo es das vorige Mal
zusammenstiess. Diese Unabhängigkeit könnte sich freilich nur
für eine unendliche Zahl von Gasmolekülen durch eine be-
liebig lange Zeit erhalten. Bei einer endlichen Zahl von
Molekülen, die sich in einem unveränderlichen Gefässe mit
vollkommen glatten, indifferenten Wänden bewegen, wird nie
unbedingt genau und durch alle Zeiten die Maxwell’sche Ge-
schwindigkeitsvertheilung gelten können.1)

In der Praxis aber werden von den Wänden stets Stö-
rungen ausgehen, welche jede durch die endliche Zahl der
Moleküle bedingte Periodicität aufheben. Auf jeden Fall ist
die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die
Gastheorie niemals widerlegt, vielmehr durch die in Aeonen
eintretende Periodicität der Bewegung eines endlichen ab-
geschlossenen Systemes sogar bestätigt worden, und da man
durch dieselbe zu einem allseitig übereinstimmenden, zu Specu-
lationen und Experimenten anregenden Weltbilde gelangt, so
ist sie wohl in der Gastheorie beizubehalten.

1) Von der hier einschlägigen Literatur führe ich nur an:
Loschmidt, Ueber den Zustand des Wärmegleichgewichts eines Systems
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[259/0277] [Gleich. 290] § 91. Wahrscheinlichkeitsrechnung. dadurch bedingte Abweichungen von den hydrodynamischen, den Diffusions-, Wärmeleitungsgleichungen u. s. w.) anregt, zu denen keine andere Theorie die Anregung zu geben vermag. § 91. Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Molekularphysik. Es wurde die Erlaubtheit der im Vorhergehenden gemachten Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Zweifel ge- zogen. Da sich aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung in so vielen mehr specielleren Fällen bewährt hat, so sehe ich keinen Grund ein, warum sie nicht auch auf Naturvorgänge allgemeinerer Art anwendbar sein sollte. Die Anwendbarkeit der Wahr- scheinlichkeitsrechnung auf die Molekularbewegung in Gasen kann natürlich nicht streng aus den Differentialgleichungen für die Bewegung ihrer Moleküle hergeleitet werden. Dieselbe folgt vielmehr aus der grossen Anzahl der Gasmoleküle und der Länge ihrer Wege, vermöge deren die Beschaffenheit der Stelle des Gases, wo ein Molekül zum Zusammenstoss gelangt, völlig unabhängig von der Stelle ist, wo es das vorige Mal zusammenstiess. Diese Unabhängigkeit könnte sich freilich nur für eine unendliche Zahl von Gasmolekülen durch eine be- liebig lange Zeit erhalten. Bei einer endlichen Zahl von Molekülen, die sich in einem unveränderlichen Gefässe mit vollkommen glatten, indifferenten Wänden bewegen, wird nie unbedingt genau und durch alle Zeiten die Maxwell’sche Ge- schwindigkeitsvertheilung gelten können. 1) In der Praxis aber werden von den Wänden stets Stö- rungen ausgehen, welche jede durch die endliche Zahl der Moleküle bedingte Periodicität aufheben. Auf jeden Fall ist die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Gastheorie niemals widerlegt, vielmehr durch die in Aeonen eintretende Periodicität der Bewegung eines endlichen ab- geschlossenen Systemes sogar bestätigt worden, und da man durch dieselbe zu einem allseitig übereinstimmenden, zu Specu- lationen und Experimenten anregenden Weltbilde gelangt, so ist sie wohl in der Gastheorie beizubehalten. 1) Von der hier einschlägigen Literatur führe ich nur an: Loschmidt, Ueber den Zustand des Wärmegleichgewichts eines Systems 17*

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/277>, abgerufen am 29.03.2024.