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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834.

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Vertheidigung öffentlich geführt, und das Urtheil wird
öffentlich gefällt. Nicht die Beamten des Königs
richten einen Angeschuldigten, sondern das Volk selbst
richtet ihn, durch seine Geschwornen. Der Einge¬
kerkerte ist keiner Willkühr Preis gegeben, denn die
freie Presse bringt jede seiner Klage zur öffentlichen
Kunde. Minder gefahrlos ist es unter reißenden
Thieren wohnen, als in einem Lande ohne Oeffent¬
lichkeit der Gerichte, ohne Geschworne und ohne
Preßfreiheit. Ein Tiger verurtheilt sein Schlacht¬
opfer zum augenblicklichen Tode, niemals zu lebens¬
länglicher Pein. Sie werden die Leidensgeschichte zweier
unglücklichen Jünglinge in den Oestreichischen Staats¬
gefängnissen lesen, und dann werden Sie begreifen,
wie die Zunge eines Tigers zur Liebkosung werden
kann.

Die Tugend und Gerechtigkeit eines deutschen
Fürsten, wo sie noch gefunden wird, hilft hier gar
nicht. Ist nicht der Kaiser von Oesterreich ein
tugendhafter und ein gerechter Fürst? Wem hat
das noch gefrommt? Die Bosheit, Leidenschaft und
Grausamkeit liegen schon in den Gesetzen; aber diese
stammen nicht von der Bosheit, Leidenschaft und
Grausamkeit der Gesetzgeber, sondern von ihrer Ver¬
rücktheit. Sie vergessen, daß eine Regierung der
Menschen willen da ist, und glauben der Mensch

Vertheidigung öffentlich geführt, und das Urtheil wird
öffentlich gefällt. Nicht die Beamten des Königs
richten einen Angeſchuldigten, ſondern das Volk ſelbſt
richtet ihn, durch ſeine Geſchwornen. Der Einge¬
kerkerte iſt keiner Willkühr Preis gegeben, denn die
freie Preſſe bringt jede ſeiner Klage zur öffentlichen
Kunde. Minder gefahrlos iſt es unter reißenden
Thieren wohnen, als in einem Lande ohne Oeffent¬
lichkeit der Gerichte, ohne Geſchworne und ohne
Preßfreiheit. Ein Tiger verurtheilt ſein Schlacht¬
opfer zum augenblicklichen Tode, niemals zu lebens¬
länglicher Pein. Sie werden die Leidensgeſchichte zweier
unglücklichen Jünglinge in den Oeſtreichiſchen Staats¬
gefängniſſen leſen, und dann werden Sie begreifen,
wie die Zunge eines Tigers zur Liebkoſung werden
kann.

Die Tugend und Gerechtigkeit eines deutſchen
Fürſten, wo ſie noch gefunden wird, hilft hier gar
nicht. Iſt nicht der Kaiſer von Oeſterreich ein
tugendhafter und ein gerechter Fürſt? Wem hat
das noch gefrommt? Die Bosheit, Leidenſchaft und
Grauſamkeit liegen ſchon in den Geſetzen; aber dieſe
ſtammen nicht von der Bosheit, Leidenſchaft und
Grauſamkeit der Geſetzgeber, ſondern von ihrer Ver¬
rücktheit. Sie vergeſſen, daß eine Regierung der
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[206/0218] Vertheidigung öffentlich geführt, und das Urtheil wird öffentlich gefällt. Nicht die Beamten des Königs richten einen Angeſchuldigten, ſondern das Volk ſelbſt richtet ihn, durch ſeine Geſchwornen. Der Einge¬ kerkerte iſt keiner Willkühr Preis gegeben, denn die freie Preſſe bringt jede ſeiner Klage zur öffentlichen Kunde. Minder gefahrlos iſt es unter reißenden Thieren wohnen, als in einem Lande ohne Oeffent¬ lichkeit der Gerichte, ohne Geſchworne und ohne Preßfreiheit. Ein Tiger verurtheilt ſein Schlacht¬ opfer zum augenblicklichen Tode, niemals zu lebens¬ länglicher Pein. Sie werden die Leidensgeſchichte zweier unglücklichen Jünglinge in den Oeſtreichiſchen Staats¬ gefängniſſen leſen, und dann werden Sie begreifen, wie die Zunge eines Tigers zur Liebkoſung werden kann. Die Tugend und Gerechtigkeit eines deutſchen Fürſten, wo ſie noch gefunden wird, hilft hier gar nicht. Iſt nicht der Kaiſer von Oeſterreich ein tugendhafter und ein gerechter Fürſt? Wem hat das noch gefrommt? Die Bosheit, Leidenſchaft und Grauſamkeit liegen ſchon in den Geſetzen; aber dieſe ſtammen nicht von der Bosheit, Leidenſchaft und Grauſamkeit der Geſetzgeber, ſondern von ihrer Ver¬ rücktheit. Sie vergeſſen, daß eine Regierung der Menſchen willen da iſt, und glauben der Menſch

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/218>, abgerufen am 24.11.2024.