Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

kommen! Möchten sie doch endlich begreifen lernen,
daß die Sitten mächtiger sind als die Gesetze, und
daß nur die Gesetze in den Ständen des Adels sind,
die Sitten aber in den Ständen des Volks! Wären
die Sitten nicht mächtiger als die Gesetze, es stünde
heute schlimm in Frankreich mit Freiheit und Gleich¬
heit. Es giebt keinen entscheidenden Tag, es giebt
kein Schlachtfeld, keinen großen Sieg der Freiheit.
Ist eine Seite der Geschichte herabgeschrieben,
werden die Zahlen addirt, und diese Summe nennt
man eine Revolution. Fällt das Buch wieder in
die Hand des Feindes, glaubt er die Revolution
vernichtet zu haben, wenn er jene Summe nicht
als Transport auf die neue Seite setzt. Er meint
die Rechnung von vorn anzufangen, er merkt nicht,
daß die alte Rechnung fortgeht -- er ist ein Esel.
Aber seid Ihr keine Esel! Ihr werdet nie etwas
zu addiren bekommen, wenn ihr nicht täglich auf¬
schreibt, Brüche zu Brüchen, Zahlen zu Zahlen
gestellt. Es giebt nur Minuten, nur kleine Händel,
kleine Zänkereien der Freiheit. Spottreden, Epigramme,
Prügel, Ohrfeigen, Thüre hinaus, Treppe hinunter
werfen. Aber jeder Tag hat vier und zwanzig
Stunden, jede Familie hat fünf Seelen, und Ihr
glaubt es nicht was fünf Seelen in vier und zwanzig
Stunden verrichten können, wenn sie ernstlich und
immer wollen . . . . . Du verehrungswürdiges

kommen! Möchten ſie doch endlich begreifen lernen,
daß die Sitten mächtiger ſind als die Geſetze, und
daß nur die Geſetze in den Ständen des Adels ſind,
die Sitten aber in den Ständen des Volks! Wären
die Sitten nicht mächtiger als die Geſetze, es ſtünde
heute ſchlimm in Frankreich mit Freiheit und Gleich¬
heit. Es giebt keinen entſcheidenden Tag, es giebt
kein Schlachtfeld, keinen großen Sieg der Freiheit.
Iſt eine Seite der Geſchichte herabgeſchrieben,
werden die Zahlen addirt, und dieſe Summe nennt
man eine Revolution. Fällt das Buch wieder in
die Hand des Feindes, glaubt er die Revolution
vernichtet zu haben, wenn er jene Summe nicht
als Transport auf die neue Seite ſetzt. Er meint
die Rechnung von vorn anzufangen, er merkt nicht,
daß die alte Rechnung fortgeht — er iſt ein Eſel.
Aber ſeid Ihr keine Eſel! Ihr werdet nie etwas
zu addiren bekommen, wenn ihr nicht täglich auf¬
ſchreibt, Brüche zu Brüchen, Zahlen zu Zahlen
geſtellt. Es giebt nur Minuten, nur kleine Händel,
kleine Zänkereien der Freiheit. Spottreden, Epigramme,
Prügel, Ohrfeigen, Thüre hinaus, Treppe hinunter
werfen. Aber jeder Tag hat vier und zwanzig
Stunden, jede Familie hat fünf Seelen, und Ihr
glaubt es nicht was fünf Seelen in vier und zwanzig
Stunden verrichten können, wenn ſie ernſtlich und
immer wollen . . . . . Du verehrungswürdiges

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0019" n="7"/>
kommen! Möchten &#x017F;ie doch endlich begreifen lernen,<lb/>
daß die Sitten mächtiger &#x017F;ind als die Ge&#x017F;etze, und<lb/>
daß nur die Ge&#x017F;etze in den Ständen des Adels &#x017F;ind,<lb/>
die Sitten aber in den Ständen des Volks! Wären<lb/>
die Sitten nicht mächtiger als die Ge&#x017F;etze, es &#x017F;tünde<lb/>
heute &#x017F;chlimm in Frankreich mit Freiheit und Gleich¬<lb/>
heit. Es giebt keinen ent&#x017F;cheidenden Tag, es giebt<lb/>
kein Schlachtfeld, keinen großen Sieg der Freiheit.<lb/>
I&#x017F;t eine Seite der Ge&#x017F;chichte herabge&#x017F;chrieben,<lb/>
werden die Zahlen addirt, und die&#x017F;e Summe nennt<lb/>
man eine Revolution. Fällt das Buch wieder in<lb/>
die Hand des Feindes, glaubt er die Revolution<lb/>
vernichtet zu haben, wenn er jene Summe nicht<lb/>
als Transport auf die neue Seite &#x017F;etzt. Er meint<lb/>
die Rechnung von vorn anzufangen, er merkt nicht,<lb/>
daß die alte Rechnung fortgeht &#x2014; er i&#x017F;t ein E&#x017F;el.<lb/>
Aber &#x017F;eid Ihr keine E&#x017F;el! Ihr werdet nie etwas<lb/>
zu addiren bekommen, wenn ihr nicht täglich auf¬<lb/>
&#x017F;chreibt, Brüche zu Brüchen, Zahlen zu Zahlen<lb/>
ge&#x017F;tellt. Es giebt nur Minuten, nur kleine Händel,<lb/>
kleine Zänkereien der Freiheit. Spottreden, Epigramme,<lb/>
Prügel, Ohrfeigen, Thüre hinaus, Treppe hinunter<lb/>
werfen. Aber jeder Tag hat vier und zwanzig<lb/>
Stunden, jede Familie hat fünf Seelen, und Ihr<lb/>
glaubt es nicht was fünf Seelen in vier und zwanzig<lb/>
Stunden verrichten können, wenn &#x017F;ie ern&#x017F;tlich und<lb/>
immer wollen . . . . . Du verehrungswürdiges<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0019] kommen! Möchten ſie doch endlich begreifen lernen, daß die Sitten mächtiger ſind als die Geſetze, und daß nur die Geſetze in den Ständen des Adels ſind, die Sitten aber in den Ständen des Volks! Wären die Sitten nicht mächtiger als die Geſetze, es ſtünde heute ſchlimm in Frankreich mit Freiheit und Gleich¬ heit. Es giebt keinen entſcheidenden Tag, es giebt kein Schlachtfeld, keinen großen Sieg der Freiheit. Iſt eine Seite der Geſchichte herabgeſchrieben, werden die Zahlen addirt, und dieſe Summe nennt man eine Revolution. Fällt das Buch wieder in die Hand des Feindes, glaubt er die Revolution vernichtet zu haben, wenn er jene Summe nicht als Transport auf die neue Seite ſetzt. Er meint die Rechnung von vorn anzufangen, er merkt nicht, daß die alte Rechnung fortgeht — er iſt ein Eſel. Aber ſeid Ihr keine Eſel! Ihr werdet nie etwas zu addiren bekommen, wenn ihr nicht täglich auf¬ ſchreibt, Brüche zu Brüchen, Zahlen zu Zahlen geſtellt. Es giebt nur Minuten, nur kleine Händel, kleine Zänkereien der Freiheit. Spottreden, Epigramme, Prügel, Ohrfeigen, Thüre hinaus, Treppe hinunter werfen. Aber jeder Tag hat vier und zwanzig Stunden, jede Familie hat fünf Seelen, und Ihr glaubt es nicht was fünf Seelen in vier und zwanzig Stunden verrichten können, wenn ſie ernſtlich und immer wollen . . . . . Du verehrungswürdiges

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/19
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/19>, abgerufen am 24.11.2024.