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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 3. Paris, 1833.

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sind nicht abgestumpft, sie gehen selten in das
Theater, und sehen wohl nur einmal das
nehmliche Stück. Sie kommen mit einem
tüchtigen Hunger und wollen sich satt hören
und sehen. In der Mitte der ersten Gallerie,
ganz genau in der Mitte, wo bei uns die
Prinzessinnen sitzen, saß, wie ein Solitair in
einem Ringe, ein Marktweib, fleischig, roth¬
wangig, mit Armen, wie junge Tannen. Ich
konnte kein Auge von ihr abwenden. Sie
hatte ihre verschränkten Arme auf die rothge¬
polsterte Lehne gelegt, und starrte regungslos
fünf Stunden lang mit durchbohrender Auf¬
merksamkeit nach der Bühne hin. Es war,
als hätte sie die Worte schockweise gekauft und
bezahlt, und zählte ängstlich nach, ob sie kei¬
nes zu wenig bekomme. Und jetzt das allge¬
meine Weinen! Nein, einen solchen Augen¬
bruch habe ich nie gesehen. Wer Augen hat¬
te, weinte; wer ein weißes Schnupftuch, trock¬

ſind nicht abgeſtumpft, ſie gehen ſelten in das
Theater, und ſehen wohl nur einmal das
nehmliche Stuͤck. Sie kommen mit einem
tuͤchtigen Hunger und wollen ſich ſatt hoͤren
und ſehen. In der Mitte der erſten Gallerie,
ganz genau in der Mitte, wo bei uns die
Prinzeſſinnen ſitzen, ſaß, wie ein Solitair in
einem Ringe, ein Marktweib, fleiſchig, roth¬
wangig, mit Armen, wie junge Tannen. Ich
konnte kein Auge von ihr abwenden. Sie
hatte ihre verſchraͤnkten Arme auf die rothge¬
polſterte Lehne gelegt, und ſtarrte regungslos
fuͤnf Stunden lang mit durchbohrender Auf¬
merkſamkeit nach der Buͤhne hin. Es war,
als haͤtte ſie die Worte ſchockweiſe gekauft und
bezahlt, und zaͤhlte aͤngſtlich nach, ob ſie kei¬
nes zu wenig bekomme. Und jetzt das allge¬
meine Weinen! Nein, einen ſolchen Augen¬
bruch habe ich nie geſehen. Wer Augen hat¬
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[286/0300] ſind nicht abgeſtumpft, ſie gehen ſelten in das Theater, und ſehen wohl nur einmal das nehmliche Stuͤck. Sie kommen mit einem tuͤchtigen Hunger und wollen ſich ſatt hoͤren und ſehen. In der Mitte der erſten Gallerie, ganz genau in der Mitte, wo bei uns die Prinzeſſinnen ſitzen, ſaß, wie ein Solitair in einem Ringe, ein Marktweib, fleiſchig, roth¬ wangig, mit Armen, wie junge Tannen. Ich konnte kein Auge von ihr abwenden. Sie hatte ihre verſchraͤnkten Arme auf die rothge¬ polſterte Lehne gelegt, und ſtarrte regungslos fuͤnf Stunden lang mit durchbohrender Auf¬ merkſamkeit nach der Buͤhne hin. Es war, als haͤtte ſie die Worte ſchockweiſe gekauft und bezahlt, und zaͤhlte aͤngſtlich nach, ob ſie kei¬ nes zu wenig bekomme. Und jetzt das allge¬ meine Weinen! Nein, einen ſolchen Augen¬ bruch habe ich nie geſehen. Wer Augen hat¬ te, weinte; wer ein weißes Schnupftuch, trock¬

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 3. Paris, 1833, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris03_1833/300>, abgerufen am 23.11.2024.