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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

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der alle sieben Farben durchgelebt hat, mehr als
zwanzig Male dabei roth geworden bin? und ich
war doch allein -- aber allein mit Gott und der
Natur. Ein Frauenzimmer darf das ohne Furcht
lesen; kann sie das verstehen, kann sie nicht mehr
erröthen. Welche Unsittlichkeit. Es ist wahr, die
französische Sprache ist eine Art Flor, der den
häßlichen Anblick blässer und milder macht; aber der
Deutsche, der sich beim Lesen übersetzt, ziehet den
Flor weg, und schaudert zurück. Jene Menschen
hätten doch wenigstens aus Dankbarkeit die Zucht
mehr schonen sollen, da sie ihnen das Vergnügen
verschafft, sie zu verspotten und mit Füßen zu tre¬
ten. Und wo sie Recht haben, das ist am Schreck¬
lichsten! Den schönen Aberglauben der Unschuld,
der eine irdische Freude zur himmlischen macht, zer¬
stören sie, und von der ganzen Ewigkeit bleibt nichts
übrig, als eine Minute. Und so verfuhren sie mit
der Tugend und mit der Religion. Waren jene
Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts darum
sittenlos, entartet, schlecht, gottlos? Gewiß nicht.
Sie führten Krieg. Die Heuchelei hatte sich mit
der Sittsamkeit umhüllt; sie mußten diese zerreißen,
um jene in ihrer häßlichen Nacktheit zu zeigen.
Die Priesterschaft hatte sich hinter der Religion
verschanzt; sie mußten über die Religion wegschrei¬

der alle ſieben Farben durchgelebt hat, mehr als
zwanzig Male dabei roth geworden bin? und ich
war doch allein — aber allein mit Gott und der
Natur. Ein Frauenzimmer darf das ohne Furcht
leſen; kann ſie das verſtehen, kann ſie nicht mehr
erröthen. Welche Unſittlichkeit. Es iſt wahr, die
franzöſiſche Sprache iſt eine Art Flor, der den
häßlichen Anblick bläſſer und milder macht; aber der
Deutſche, der ſich beim Leſen überſetzt, ziehet den
Flor weg, und ſchaudert zurück. Jene Menſchen
hätten doch wenigſtens aus Dankbarkeit die Zucht
mehr ſchonen ſollen, da ſie ihnen das Vergnügen
verſchafft, ſie zu verſpotten und mit Füßen zu tre¬
ten. Und wo ſie Recht haben, das iſt am Schreck¬
lichſten! Den ſchönen Aberglauben der Unſchuld,
der eine irdiſche Freude zur himmliſchen macht, zer¬
ſtören ſie, und von der ganzen Ewigkeit bleibt nichts
übrig, als eine Minute. Und ſo verfuhren ſie mit
der Tugend und mit der Religion. Waren jene
Schriftſteller des achtzehnten Jahrhunderts darum
ſittenlos, entartet, ſchlecht, gottlos? Gewiß nicht.
Sie führten Krieg. Die Heuchelei hatte ſich mit
der Sittſamkeit umhüllt; ſie mußten dieſe zerreißen,
um jene in ihrer häßlichen Nacktheit zu zeigen.
Die Prieſterſchaft hatte ſich hinter der Religion
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[173/0187] der alle ſieben Farben durchgelebt hat, mehr als zwanzig Male dabei roth geworden bin? und ich war doch allein — aber allein mit Gott und der Natur. Ein Frauenzimmer darf das ohne Furcht leſen; kann ſie das verſtehen, kann ſie nicht mehr erröthen. Welche Unſittlichkeit. Es iſt wahr, die franzöſiſche Sprache iſt eine Art Flor, der den häßlichen Anblick bläſſer und milder macht; aber der Deutſche, der ſich beim Leſen überſetzt, ziehet den Flor weg, und ſchaudert zurück. Jene Menſchen hätten doch wenigſtens aus Dankbarkeit die Zucht mehr ſchonen ſollen, da ſie ihnen das Vergnügen verſchafft, ſie zu verſpotten und mit Füßen zu tre¬ ten. Und wo ſie Recht haben, das iſt am Schreck¬ lichſten! Den ſchönen Aberglauben der Unſchuld, der eine irdiſche Freude zur himmliſchen macht, zer¬ ſtören ſie, und von der ganzen Ewigkeit bleibt nichts übrig, als eine Minute. Und ſo verfuhren ſie mit der Tugend und mit der Religion. Waren jene Schriftſteller des achtzehnten Jahrhunderts darum ſittenlos, entartet, ſchlecht, gottlos? Gewiß nicht. Sie führten Krieg. Die Heuchelei hatte ſich mit der Sittſamkeit umhüllt; ſie mußten dieſe zerreißen, um jene in ihrer häßlichen Nacktheit zu zeigen. Die Prieſterſchaft hatte ſich hinter der Religion verſchanzt; ſie mußten über die Religion wegſchrei¬

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/187>, abgerufen am 17.05.2024.