Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

"steht der lebendige Mensch schaffend im Mit¬
"telpunkt der Welt."

"Diesen Satz kann aber eben nur wahrnehmen
"und aussprechen der Mensch, der in sich Kern,
"Werth und Würde trägt; wer selbst nichts ist, muß
"sich natürlich entweder unter den Schutz, ich weiß nicht
"welcher Idee, als einer eingebildeten Macht begeben,
"oder er muß geradezu, wenn er scheinbar etwas
"stärker ist, das Thierrecht des Stärkeren, d. h. die
"Selbstsucht schlechtweg für sich ansprechen."

"Wir sehen auch die Zeit nach dieser Spal¬
"tung in zwei Theile getheilt. Der eine, die Ge¬
"lehrten, brütet über Ideen und sucht im Trüben zu
"fischen; der andere, die Materiellen, als die Stär¬
"kern, spricht geradezu durch Wort und That die
"Selbstsucht aus und tritt den Begriff wie den le¬
"bendigen Menschen in allen Verhältnissen mit Füßen,
"wogegen die andern blos die Hände ringen und die
"Vorsehung zum Zeugen der Frevel ausrufen. --
"Was uns am meisten Noth thut, ist -- Vereini¬
"gung
. ..."

Ich erstaune gar nicht, einen Wiener so spre¬
chen zu hören; denn eigentlich ist Oesterreich die hohe
Schule des Liberalismus. Wohin uns Andere oft
nur philosophische Spekulation führt, dahin bringt
jene die Noth, und Noth ist eine bessere Lehrerin
als Philosophie. Hören Sie ferner, was er von

„ſteht der lebendige Menſch ſchaffend im Mit¬
„telpunkt der Welt.“

„Dieſen Satz kann aber eben nur wahrnehmen
„und ausſprechen der Menſch, der in ſich Kern,
„Werth und Würde trägt; wer ſelbſt nichts iſt, muß
„ſich natürlich entweder unter den Schutz, ich weiß nicht
„welcher Idee, als einer eingebildeten Macht begeben,
„oder er muß geradezu, wenn er ſcheinbar etwas
„ſtärker iſt, das Thierrecht des Stärkeren, d. h. die
„Selbſtſucht ſchlechtweg für ſich anſprechen.“

„Wir ſehen auch die Zeit nach dieſer Spal¬
„tung in zwei Theile getheilt. Der eine, die Ge¬
„lehrten, brütet über Ideen und ſucht im Trüben zu
„fiſchen; der andere, die Materiellen, als die Stär¬
„kern, ſpricht geradezu durch Wort und That die
„Selbſtſucht aus und tritt den Begriff wie den le¬
„bendigen Menſchen in allen Verhältniſſen mit Füßen,
„wogegen die andern blos die Hände ringen und die
„Vorſehung zum Zeugen der Frevel ausrufen. —
„Was uns am meiſten Noth thut, iſt — Vereini¬
„gung
. ...“

Ich erſtaune gar nicht, einen Wiener ſo ſpre¬
chen zu hören; denn eigentlich iſt Oeſterreich die hohe
Schule des Liberalismus. Wohin uns Andere oft
nur philoſophiſche Spekulation führt, dahin bringt
jene die Noth, und Noth iſt eine beſſere Lehrerin
als Philoſophie. Hören Sie ferner, was er von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0119" n="105"/>
&#x201E;&#x017F;teht der <hi rendition="#g">lebendige Men&#x017F;ch</hi> &#x017F;chaffend im Mit¬<lb/>
&#x201E;telpunkt der Welt.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die&#x017F;en Satz kann aber eben nur wahrnehmen<lb/>
&#x201E;und aus&#x017F;prechen der Men&#x017F;ch, der in &#x017F;ich Kern,<lb/>
&#x201E;Werth und Würde trägt; wer &#x017F;elb&#x017F;t nichts i&#x017F;t, muß<lb/>
&#x201E;&#x017F;ich natürlich entweder unter den Schutz, ich weiß nicht<lb/>
&#x201E;welcher Idee, als einer eingebildeten Macht begeben,<lb/>
&#x201E;oder er muß geradezu, wenn er &#x017F;cheinbar etwas<lb/>
&#x201E;&#x017F;tärker i&#x017F;t, das Thierrecht des Stärkeren, d. h. die<lb/>
&#x201E;Selb&#x017F;t&#x017F;ucht &#x017F;chlechtweg für &#x017F;ich an&#x017F;prechen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wir &#x017F;ehen auch die Zeit nach die&#x017F;er Spal¬<lb/>
&#x201E;tung in zwei Theile getheilt. Der eine, die Ge¬<lb/>
&#x201E;lehrten, brütet über Ideen und &#x017F;ucht im Trüben zu<lb/>
&#x201E;fi&#x017F;chen; der andere, die Materiellen, als die Stär¬<lb/>
&#x201E;kern, &#x017F;pricht geradezu durch Wort und That die<lb/>
&#x201E;Selb&#x017F;t&#x017F;ucht aus und tritt den Begriff wie den le¬<lb/>
&#x201E;bendigen Men&#x017F;chen in allen Verhältni&#x017F;&#x017F;en mit Füßen,<lb/>
&#x201E;wogegen die andern blos die Hände ringen <choice><sic>uud</sic><corr>und</corr></choice> die<lb/>
&#x201E;Vor&#x017F;ehung zum Zeugen der Frevel ausrufen. &#x2014;<lb/>
&#x201E;Was uns am mei&#x017F;ten Noth thut, i&#x017F;t &#x2014; <hi rendition="#g">Vereini¬<lb/>
&#x201E;gung</hi>. ...&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich er&#x017F;taune gar nicht, einen Wiener &#x017F;o &#x017F;pre¬<lb/>
chen zu hören; denn eigentlich i&#x017F;t Oe&#x017F;terreich die hohe<lb/>
Schule des Liberalismus. Wohin uns Andere oft<lb/>
nur philo&#x017F;ophi&#x017F;che Spekulation führt, dahin bringt<lb/>
jene die <hi rendition="#g">Noth</hi>, und Noth i&#x017F;t eine be&#x017F;&#x017F;ere Lehrerin<lb/>
als Philo&#x017F;ophie. Hören Sie ferner, was er von<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0119] „ſteht der lebendige Menſch ſchaffend im Mit¬ „telpunkt der Welt.“ „Dieſen Satz kann aber eben nur wahrnehmen „und ausſprechen der Menſch, der in ſich Kern, „Werth und Würde trägt; wer ſelbſt nichts iſt, muß „ſich natürlich entweder unter den Schutz, ich weiß nicht „welcher Idee, als einer eingebildeten Macht begeben, „oder er muß geradezu, wenn er ſcheinbar etwas „ſtärker iſt, das Thierrecht des Stärkeren, d. h. die „Selbſtſucht ſchlechtweg für ſich anſprechen.“ „Wir ſehen auch die Zeit nach dieſer Spal¬ „tung in zwei Theile getheilt. Der eine, die Ge¬ „lehrten, brütet über Ideen und ſucht im Trüben zu „fiſchen; der andere, die Materiellen, als die Stär¬ „kern, ſpricht geradezu durch Wort und That die „Selbſtſucht aus und tritt den Begriff wie den le¬ „bendigen Menſchen in allen Verhältniſſen mit Füßen, „wogegen die andern blos die Hände ringen und die „Vorſehung zum Zeugen der Frevel ausrufen. — „Was uns am meiſten Noth thut, iſt — Vereini¬ „gung. ...“ Ich erſtaune gar nicht, einen Wiener ſo ſpre¬ chen zu hören; denn eigentlich iſt Oeſterreich die hohe Schule des Liberalismus. Wohin uns Andere oft nur philoſophiſche Spekulation führt, dahin bringt jene die Noth, und Noth iſt eine beſſere Lehrerin als Philoſophie. Hören Sie ferner, was er von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/119
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/119>, abgerufen am 01.09.2024.