her, die Wölbung liegt so niedrig auf seinem Haupt, daß er nicht aufstehen kann. Aber das ist es, was er will. Nichts mehr sehen als das Elendeste und das Nichts selbst.
Freilich: die Schauerwelt ist zäh. Sie geht mit ihm in seinen Gedanken. Nacht liegt über der Wüste; die Glutnacht, in der die Sterne rot schimmern. Da öffnen sich die Wände der Gruft, in der der Lebendige liegt. Dämonen kommen, Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpione, Leoparden, Bären, eine brüllende Meute. Herkulische Menschenbilder stürzen vor und zerschlagen den Einsiedler, diesen verfluchten "Lebendigen". Draußen heult es, klagt es, jauchzt es immerzu: Kindergeschrei, Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden, Gebrüll von Ochsen, der Tritt langer Kolonnen einer Armee. Nun geht der Mond gespenstisch fahl auf: ein Wagen mit durchgehenden Rossen stürzt mit wahnsinnigem Gepolter grade auf den Ver¬ folgten zu: "Jesus", ringt sich keuchend aus seiner Brust und der Spuk versinkt in der Erde. Aber indem er aufatmen will, gebiert diese Erde schon ein Neues: üppig besetzte Tafeln ent¬ steigen der Wüstendürre, Trauben schwellen, goldener Wein fließt im Pokal. Von den Polstern aber steigen schöne nackte Frauen, mit entfesseltem Haar, mit feucht glühendem Auge, mit dem wilden Duft der Liebesspezereien ... In Schweiß gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüste. Aber auf seine Schulter preßt sich ein höllischer Druck, ein Schatten liegt über ihm: ein Gespenst sitzt ihm auf dem Nacken, reitet ihn wie der Löwe die Giraffe im "Löwenritt". Triumphierend hallt sein gräßliches Lachen durch die Wüstenstille.
Sie ist nicht tot zu bekommen, diese Welt. Sie haftet an den Organen, die der Flüchtling mit gebracht hat. Am schlimmsten ist das Organ der Liebe. Und der Asket greift zum Messer, kastriert sich, löscht das Geschlechtsindividuum in sich aus. Wenn das Organ tot von ihm absinkt, wie ein endlich erlegtes Gifttier, dann wird auch der Geist von da drunten gemordet sein. Dann kann der befreite Gedanke sich
her, die Wölbung liegt ſo niedrig auf ſeinem Haupt, daß er nicht aufſtehen kann. Aber das iſt es, was er will. Nichts mehr ſehen als das Elendeſte und das Nichts ſelbſt.
Freilich: die Schauerwelt iſt zäh. Sie geht mit ihm in ſeinen Gedanken. Nacht liegt über der Wüſte; die Glutnacht, in der die Sterne rot ſchimmern. Da öffnen ſich die Wände der Gruft, in der der Lebendige liegt. Dämonen kommen, Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpione, Leoparden, Bären, eine brüllende Meute. Herkuliſche Menſchenbilder ſtürzen vor und zerſchlagen den Einſiedler, dieſen verfluchten „Lebendigen“. Draußen heult es, klagt es, jauchzt es immerzu: Kindergeſchrei, Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden, Gebrüll von Ochſen, der Tritt langer Kolonnen einer Armee. Nun geht der Mond geſpenſtiſch fahl auf: ein Wagen mit durchgehenden Roſſen ſtürzt mit wahnſinnigem Gepolter grade auf den Ver¬ folgten zu: „Jeſus“, ringt ſich keuchend aus ſeiner Bruſt und der Spuk verſinkt in der Erde. Aber indem er aufatmen will, gebiert dieſe Erde ſchon ein Neues: üppig beſetzte Tafeln ent¬ ſteigen der Wüſtendürre, Trauben ſchwellen, goldener Wein fließt im Pokal. Von den Polſtern aber ſteigen ſchöne nackte Frauen, mit entfeſſeltem Haar, mit feucht glühendem Auge, mit dem wilden Duft der Liebesſpezereien ... In Schweiß gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüſte. Aber auf ſeine Schulter preßt ſich ein hölliſcher Druck, ein Schatten liegt über ihm: ein Geſpenſt ſitzt ihm auf dem Nacken, reitet ihn wie der Löwe die Giraffe im „Löwenritt“. Triumphierend hallt ſein gräßliches Lachen durch die Wüſtenſtille.
Sie iſt nicht tot zu bekommen, dieſe Welt. Sie haftet an den Organen, die der Flüchtling mit gebracht hat. Am ſchlimmſten iſt das Organ der Liebe. Und der Aſket greift zum Meſſer, kaſtriert ſich, löſcht das Geſchlechtsindividuum in ſich aus. Wenn das Organ tot von ihm abſinkt, wie ein endlich erlegtes Gifttier, dann wird auch der Geiſt von da drunten gemordet ſein. Dann kann der befreite Gedanke ſich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0368"n="354"/>
her, die Wölbung liegt ſo niedrig auf ſeinem Haupt, daß er<lb/>
nicht aufſtehen kann. Aber das iſt es, was er will. Nichts<lb/>
mehr ſehen als das Elendeſte und das Nichts ſelbſt.</p><lb/><p>Freilich: die Schauerwelt iſt zäh. Sie geht mit ihm in<lb/>ſeinen Gedanken. Nacht liegt über der Wüſte; die Glutnacht,<lb/>
in der die Sterne rot ſchimmern. Da öffnen ſich die Wände<lb/>
der Gruft, in der der Lebendige liegt. Dämonen kommen,<lb/>
Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpione, Leoparden, Bären,<lb/>
eine brüllende Meute. Herkuliſche Menſchenbilder ſtürzen vor<lb/>
und zerſchlagen den Einſiedler, dieſen verfluchten „Lebendigen“.<lb/>
Draußen heult es, klagt es, jauchzt es immerzu: Kindergeſchrei,<lb/>
Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden, Gebrüll von<lb/>
Ochſen, der Tritt langer Kolonnen einer Armee. Nun geht<lb/>
der Mond geſpenſtiſch fahl auf: ein Wagen mit durchgehenden<lb/>
Roſſen ſtürzt mit wahnſinnigem Gepolter grade auf den Ver¬<lb/>
folgten zu: „Jeſus“, ringt ſich keuchend aus ſeiner Bruſt und<lb/>
der Spuk verſinkt in der Erde. Aber indem er aufatmen will,<lb/>
gebiert dieſe Erde ſchon ein Neues: üppig beſetzte Tafeln ent¬<lb/>ſteigen der Wüſtendürre, Trauben ſchwellen, goldener Wein<lb/>
fließt im Pokal. Von den Polſtern aber ſteigen ſchöne nackte<lb/>
Frauen, mit entfeſſeltem Haar, mit feucht glühendem Auge,<lb/>
mit dem wilden Duft der Liebesſpezereien ... In Schweiß<lb/>
gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüſte. Aber<lb/>
auf ſeine Schulter preßt ſich ein hölliſcher Druck, ein Schatten<lb/>
liegt über ihm: ein Geſpenſt ſitzt ihm auf dem Nacken, reitet<lb/>
ihn wie der Löwe die Giraffe im „Löwenritt“. Triumphierend<lb/>
hallt ſein gräßliches Lachen durch die Wüſtenſtille.</p><lb/><p>Sie iſt nicht tot zu bekommen, dieſe Welt. Sie haftet<lb/>
an den Organen, die der Flüchtling mit gebracht hat. Am<lb/>ſchlimmſten iſt das Organ der Liebe. Und der Aſket greift<lb/>
zum Meſſer, kaſtriert ſich, löſcht das Geſchlechtsindividuum in<lb/>ſich aus. Wenn das Organ tot von ihm abſinkt, wie ein<lb/>
endlich erlegtes Gifttier, dann wird auch der Geiſt von da<lb/>
drunten gemordet ſein. Dann kann der befreite Gedanke ſich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[354/0368]
her, die Wölbung liegt ſo niedrig auf ſeinem Haupt, daß er
nicht aufſtehen kann. Aber das iſt es, was er will. Nichts
mehr ſehen als das Elendeſte und das Nichts ſelbſt.
Freilich: die Schauerwelt iſt zäh. Sie geht mit ihm in
ſeinen Gedanken. Nacht liegt über der Wüſte; die Glutnacht,
in der die Sterne rot ſchimmern. Da öffnen ſich die Wände
der Gruft, in der der Lebendige liegt. Dämonen kommen,
Schlangen, Löwen, Stiere, Wölfe, Skorpione, Leoparden, Bären,
eine brüllende Meute. Herkuliſche Menſchenbilder ſtürzen vor
und zerſchlagen den Einſiedler, dieſen verfluchten „Lebendigen“.
Draußen heult es, klagt es, jauchzt es immerzu: Kindergeſchrei,
Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden, Gebrüll von
Ochſen, der Tritt langer Kolonnen einer Armee. Nun geht
der Mond geſpenſtiſch fahl auf: ein Wagen mit durchgehenden
Roſſen ſtürzt mit wahnſinnigem Gepolter grade auf den Ver¬
folgten zu: „Jeſus“, ringt ſich keuchend aus ſeiner Bruſt und
der Spuk verſinkt in der Erde. Aber indem er aufatmen will,
gebiert dieſe Erde ſchon ein Neues: üppig beſetzte Tafeln ent¬
ſteigen der Wüſtendürre, Trauben ſchwellen, goldener Wein
fließt im Pokal. Von den Polſtern aber ſteigen ſchöne nackte
Frauen, mit entfeſſeltem Haar, mit feucht glühendem Auge,
mit dem wilden Duft der Liebesſpezereien ... In Schweiß
gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüſte. Aber
auf ſeine Schulter preßt ſich ein hölliſcher Druck, ein Schatten
liegt über ihm: ein Geſpenſt ſitzt ihm auf dem Nacken, reitet
ihn wie der Löwe die Giraffe im „Löwenritt“. Triumphierend
hallt ſein gräßliches Lachen durch die Wüſtenſtille.
Sie iſt nicht tot zu bekommen, dieſe Welt. Sie haftet
an den Organen, die der Flüchtling mit gebracht hat. Am
ſchlimmſten iſt das Organ der Liebe. Und der Aſket greift
zum Meſſer, kaſtriert ſich, löſcht das Geſchlechtsindividuum in
ſich aus. Wenn das Organ tot von ihm abſinkt, wie ein
endlich erlegtes Gifttier, dann wird auch der Geiſt von da
drunten gemordet ſein. Dann kann der befreite Gedanke ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/368>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.