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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Süßer, geheimnisvoller ist die Musik, die etwas ferner
herüber klingt. Durch Indien streift der Schattenstreifen dort,
Lotosblumen blühen darin, der heilige Strom rauscht in der
Tiefe. Da ragen gesondert die Pagoden des Nara-Lingam
und der Nari-Nahamam. In ganz süßen Melodien hatte das
eingesetzt. Ursprünglich war Nari die Liebe, die "goldene
Welt-Gebärmutter", die sich mit Nara, dem Geiste, vermählte
und so die Welt erschuf. In solchem lichten Bilde ist es, als
breche die Phantasie hellseherisch wirklich für einen Moment
die Schranken unserer Menschlichkeit ....

Aber so bleibt es nicht. Mit der Verweltlichung des
Brahmanismus ist Nari nur noch die mystische Vergottung der
weiblichen Liebespforte. Ihr Symbol ist das Nahamam, das
weibliche Zeugungsorgan. Nara dagegen ist der heilige Mann
als Mannesglied, als Lingam. Jede der beiden Gottheiten
hat ihre Pagode für sich, in der ihr Symbol allerorten prangt,
naiv wie andere heilige Zeichen in Gotteshäusern. Zur ge¬
weihten Stunde aber strömt es zu diesen Heiligtümern von
Gläubigen. Die Männer zur Pagode des Nara, die Weiber
zur Pagode der Nari. Dort sind Priesterinnen, wild sinnlich
kostumiert, Blumen im Haar, in Wohlgerüchen halb erstickt,
hier die Priester ebenso. Weihrauch dampft, es ist Gottesdienst
und dieser Dienst ist regellose Zeugung. Neun Tage dauert in
der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche solches Liebesfest,
eine einzige lodernde Orgie. Alle Einwohner des Ortes nehmen
daran teil. Jeder trägt am Halse als Abzeichen ein männliches
Lingambild, verschränkt mit einem weiblichen Nahamam. Und
alle kehren heim mit dem Glauben, eine fromme Zeit verlebt zu
haben, da ihre kleinen menschlichen Sünden von ihnen fielen in der
Verklärung zum Gottesdienst. Ungeheuerliche Kraft der Phantasie!

Doch die Musik schweigt vor Schrecken, denn jetzt kommt
ein lederner Pedant. Der Römer kommt, der alte Cato, der
alte Cicero. Hier ist alles rechtlich fest geregelt, -- auch die
Phantasie. Jede Geschlechtsfunktion hat ihre Gottheit bis ins

Süßer, geheimnisvoller iſt die Muſik, die etwas ferner
herüber klingt. Durch Indien ſtreift der Schattenſtreifen dort,
Lotosblumen blühen darin, der heilige Strom rauſcht in der
Tiefe. Da ragen geſondert die Pagoden des Nara-Lingam
und der Nari-Nahamam. In ganz ſüßen Melodien hatte das
eingeſetzt. Urſprünglich war Nari die Liebe, die „goldene
Welt-Gebärmutter“, die ſich mit Nara, dem Geiſte, vermählte
und ſo die Welt erſchuf. In ſolchem lichten Bilde iſt es, als
breche die Phantaſie hellſeheriſch wirklich für einen Moment
die Schranken unſerer Menſchlichkeit ....

Aber ſo bleibt es nicht. Mit der Verweltlichung des
Brahmanismus iſt Nari nur noch die myſtiſche Vergottung der
weiblichen Liebespforte. Ihr Symbol iſt das Nahamam, das
weibliche Zeugungsorgan. Nara dagegen iſt der heilige Mann
als Mannesglied, als Lingam. Jede der beiden Gottheiten
hat ihre Pagode für ſich, in der ihr Symbol allerorten prangt,
naiv wie andere heilige Zeichen in Gotteshäuſern. Zur ge¬
weihten Stunde aber ſtrömt es zu dieſen Heiligtümern von
Gläubigen. Die Männer zur Pagode des Nara, die Weiber
zur Pagode der Nari. Dort ſind Prieſterinnen, wild ſinnlich
koſtumiert, Blumen im Haar, in Wohlgerüchen halb erſtickt,
hier die Prieſter ebenſo. Weihrauch dampft, es iſt Gottesdienſt
und dieſer Dienſt iſt regelloſe Zeugung. Neun Tage dauert in
der Frühlings- und Herbſt-Tagundnachtgleiche ſolches Liebesfeſt,
eine einzige lodernde Orgie. Alle Einwohner des Ortes nehmen
daran teil. Jeder trägt am Halſe als Abzeichen ein männliches
Lingambild, verſchränkt mit einem weiblichen Nahamam. Und
alle kehren heim mit dem Glauben, eine fromme Zeit verlebt zu
haben, da ihre kleinen menſchlichen Sünden von ihnen fielen in der
Verklärung zum Gottesdienſt. Ungeheuerliche Kraft der Phantaſie!

Doch die Muſik ſchweigt vor Schrecken, denn jetzt kommt
ein lederner Pedant. Der Römer kommt, der alte Cato, der
alte Cicero. Hier iſt alles rechtlich feſt geregelt, — auch die
Phantaſie. Jede Geſchlechtsfunktion hat ihre Gottheit bis ins

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[322/0336] Süßer, geheimnisvoller iſt die Muſik, die etwas ferner herüber klingt. Durch Indien ſtreift der Schattenſtreifen dort, Lotosblumen blühen darin, der heilige Strom rauſcht in der Tiefe. Da ragen geſondert die Pagoden des Nara-Lingam und der Nari-Nahamam. In ganz ſüßen Melodien hatte das eingeſetzt. Urſprünglich war Nari die Liebe, die „goldene Welt-Gebärmutter“, die ſich mit Nara, dem Geiſte, vermählte und ſo die Welt erſchuf. In ſolchem lichten Bilde iſt es, als breche die Phantaſie hellſeheriſch wirklich für einen Moment die Schranken unſerer Menſchlichkeit .... Aber ſo bleibt es nicht. Mit der Verweltlichung des Brahmanismus iſt Nari nur noch die myſtiſche Vergottung der weiblichen Liebespforte. Ihr Symbol iſt das Nahamam, das weibliche Zeugungsorgan. Nara dagegen iſt der heilige Mann als Mannesglied, als Lingam. Jede der beiden Gottheiten hat ihre Pagode für ſich, in der ihr Symbol allerorten prangt, naiv wie andere heilige Zeichen in Gotteshäuſern. Zur ge¬ weihten Stunde aber ſtrömt es zu dieſen Heiligtümern von Gläubigen. Die Männer zur Pagode des Nara, die Weiber zur Pagode der Nari. Dort ſind Prieſterinnen, wild ſinnlich koſtumiert, Blumen im Haar, in Wohlgerüchen halb erſtickt, hier die Prieſter ebenſo. Weihrauch dampft, es iſt Gottesdienſt und dieſer Dienſt iſt regelloſe Zeugung. Neun Tage dauert in der Frühlings- und Herbſt-Tagundnachtgleiche ſolches Liebesfeſt, eine einzige lodernde Orgie. Alle Einwohner des Ortes nehmen daran teil. Jeder trägt am Halſe als Abzeichen ein männliches Lingambild, verſchränkt mit einem weiblichen Nahamam. Und alle kehren heim mit dem Glauben, eine fromme Zeit verlebt zu haben, da ihre kleinen menſchlichen Sünden von ihnen fielen in der Verklärung zum Gottesdienſt. Ungeheuerliche Kraft der Phantaſie! Doch die Muſik ſchweigt vor Schrecken, denn jetzt kommt ein lederner Pedant. Der Römer kommt, der alte Cato, der alte Cicero. Hier iſt alles rechtlich feſt geregelt, — auch die Phantaſie. Jede Geſchlechtsfunktion hat ihre Gottheit bis ins

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/336>, abgerufen am 10.06.2024.