In der einfachsten logischen Linie fügt sich dir hier wieder ein "Wirkliches" ein, das in der Völkerkunde eine umfassende Rolle spielt. Die Sitte nämlich des Frauenraubs und des Frauenkaufs.
Wenn du in die süßeste Romantik dich hineinträumen willst, so denkst du an die Ritterburg auf hohem Fels, wo die sonnenschöne Tochter vom bösen alten Vater streng bewacht wird. Der starke junge Ritter erklettert in wilder Sturmnacht die senkrechte Felswand und entführt das liebesfrohe Burg¬ fräulein auf seinem schnellen Roß. Oder aus dem schwarzen Walde brechen die Räuber und verschleppen das Bürgermädchen, damit sie ihre Räuberkönigin werde. Als Schuljunge lernst du zwischen viel Langeweile doch auch die pikante Historia vom Raub der Sabinerinnen, von der gewaltsam in den Hades stibitzten Proserpina, vom kühnen Paris, der aus dem fremden Trojanervolk die Helena entführt, von der wilden Brunhild, die mit Gewalt erzwungen werden muß und des Königs spottet, der zu schwach ist. Durch alle diese Bilder gaukelt der gleiche Zauber: der Bräutigam raubt die Braut! Je nachdem hat das etwas von wilder Notzucht. Aber das wäre nicht eigent¬ lich romantisch. Die Romantik braucht heiße Liebe beider Parteien, sie braucht auch Ehe als Ziel. Aber dazwischen schiebt sich wie ein besonderes Gewürz das Wilde, Handgreif¬ liche, Gewaltsame: der Raub, der mit einem Ruck alle Fäden sprengt, in denen die Braut bis dahin eingesponnen saß, der sie symbolisch nackt in die Hand des Geliebten giebt, als des fortan Einzigen, der nun Vater und Mutter und alles zu¬ gleich für sie wird, wie es in Andromaches wunderbarer Rede zu Hektor bei Homer heißt.
Und es ist ein altes Gewürz, aus uralter Küche. Wieder rollst du das große Panorama auf, das diese ganze Romantik doch noch gar nicht kannte: den tropischen Urwald, die dampfende Vulkaninsel, das palmenüberwehte Koralleneiland im blauen Südmeer. Und auch dort stößt du auf Fälle die
In der einfachſten logiſchen Linie fügt ſich dir hier wieder ein „Wirkliches“ ein, das in der Völkerkunde eine umfaſſende Rolle ſpielt. Die Sitte nämlich des Frauenraubs und des Frauenkaufs.
Wenn du in die ſüßeſte Romantik dich hineinträumen willſt, ſo denkſt du an die Ritterburg auf hohem Fels, wo die ſonnenſchöne Tochter vom böſen alten Vater ſtreng bewacht wird. Der ſtarke junge Ritter erklettert in wilder Sturmnacht die ſenkrechte Felswand und entführt das liebesfrohe Burg¬ fräulein auf ſeinem ſchnellen Roß. Oder aus dem ſchwarzen Walde brechen die Räuber und verſchleppen das Bürgermädchen, damit ſie ihre Räuberkönigin werde. Als Schuljunge lernſt du zwiſchen viel Langeweile doch auch die pikante Hiſtoria vom Raub der Sabinerinnen, von der gewaltſam in den Hades ſtibitzten Proſerpina, vom kühnen Paris, der aus dem fremden Trojanervolk die Helena entführt, von der wilden Brunhild, die mit Gewalt erzwungen werden muß und des Königs ſpottet, der zu ſchwach iſt. Durch alle dieſe Bilder gaukelt der gleiche Zauber: der Bräutigam raubt die Braut! Je nachdem hat das etwas von wilder Notzucht. Aber das wäre nicht eigent¬ lich romantiſch. Die Romantik braucht heiße Liebe beider Parteien, ſie braucht auch Ehe als Ziel. Aber dazwiſchen ſchiebt ſich wie ein beſonderes Gewürz das Wilde, Handgreif¬ liche, Gewaltſame: der Raub, der mit einem Ruck alle Fäden ſprengt, in denen die Braut bis dahin eingeſponnen ſaß, der ſie ſymboliſch nackt in die Hand des Geliebten giebt, als des fortan Einzigen, der nun Vater und Mutter und alles zu¬ gleich für ſie wird, wie es in Andromaches wunderbarer Rede zu Hektor bei Homer heißt.
Und es iſt ein altes Gewürz, aus uralter Küche. Wieder rollſt du das große Panorama auf, das dieſe ganze Romantik doch noch gar nicht kannte: den tropiſchen Urwald, die dampfende Vulkaninſel, das palmenüberwehte Koralleneiland im blauen Südmeer. Und auch dort ſtößt du auf Fälle die
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In der einfachſten logiſchen Linie fügt ſich dir hier wieder
ein „Wirkliches“ ein, das in der Völkerkunde eine umfaſſende
Rolle ſpielt. Die Sitte nämlich des Frauenraubs und des
Frauenkaufs.
Wenn du in die ſüßeſte Romantik dich hineinträumen
willſt, ſo denkſt du an die Ritterburg auf hohem Fels, wo die
ſonnenſchöne Tochter vom böſen alten Vater ſtreng bewacht
wird. Der ſtarke junge Ritter erklettert in wilder Sturmnacht
die ſenkrechte Felswand und entführt das liebesfrohe Burg¬
fräulein auf ſeinem ſchnellen Roß. Oder aus dem ſchwarzen
Walde brechen die Räuber und verſchleppen das Bürgermädchen,
damit ſie ihre Räuberkönigin werde. Als Schuljunge lernſt du
zwiſchen viel Langeweile doch auch die pikante Hiſtoria vom
Raub der Sabinerinnen, von der gewaltſam in den Hades
ſtibitzten Proſerpina, vom kühnen Paris, der aus dem fremden
Trojanervolk die Helena entführt, von der wilden Brunhild,
die mit Gewalt erzwungen werden muß und des Königs ſpottet,
der zu ſchwach iſt. Durch alle dieſe Bilder gaukelt der gleiche
Zauber: der Bräutigam raubt die Braut! Je nachdem hat
das etwas von wilder Notzucht. Aber das wäre nicht eigent¬
lich romantiſch. Die Romantik braucht heiße Liebe beider
Parteien, ſie braucht auch Ehe als Ziel. Aber dazwiſchen
ſchiebt ſich wie ein beſonderes Gewürz das Wilde, Handgreif¬
liche, Gewaltſame: der Raub, der mit einem Ruck alle Fäden
ſprengt, in denen die Braut bis dahin eingeſponnen ſaß, der
ſie ſymboliſch nackt in die Hand des Geliebten giebt, als des
fortan Einzigen, der nun Vater und Mutter und alles zu¬
gleich für ſie wird, wie es in Andromaches wunderbarer
Rede zu Hektor bei Homer heißt.
Und es iſt ein altes Gewürz, aus uralter Küche. Wieder
rollſt du das große Panorama auf, das dieſe ganze Romantik
doch noch gar nicht kannte: den tropiſchen Urwald, die
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/254>, abgerufen am 22.11.2024.
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