Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

seine tote Genossin und war mehrere Tage nicht zu vertreiben.
Es ließ sich mit Händen greifen und blieb schließlich als Ge¬
fangener bei den Leuten.

Wenn die Goldspechte in Nordamerika glücklich verehelicht
sind, erzählt Audubon, der alte unvergleichliche Charakterschilderer,
so beginnt jedes Paar "sofort einen Baumstamm auszuhöhlen,
um eine Wohnung zu erbauen, welche ihnen und den Jungen
genügt. Beide arbeiten mit größtem Eifer und, wie es scheint,
mit größtem Vergnügen. Wenn das Männchen beschäftigt ist,
hängt sich die Gattin dicht daneben und beglückwünscht es über
jeden Span, welchen sein Schnabel durch die Luft sendet.
Wenn er ausruht, scheint er mit ihr auf das zierlichste zu
sprechen, und wenn er ermüdet ist, wird er von ihr unterstützt.
In dieser Weise, und dank der beiderseitigen Anstrengung,
wird die Höhle bald ausgemeiselt und vollendet. Nun liebkosen
sie sich auf den Zweigen, klettern mit wahrem Vergnügen an
den Stämmen der Bäume empor oder um sie herum, trommeln
mit dem Schnabel an abgestorbene Zweige, verjagen ihre
Vettern, die Rotköpfe, verteidigen das Nest gegen die Purpur¬
stare, kichern und lachen dazwischen".

Wer da weiß, wie stark im Vogel überhaupt Solidaritäts¬
gefühle vorhanden sein können, den wird es keinen Moment
wundernehmen, daß diese eheliche Lebensgemeinschaft sie auch
über das Erotische hinaus zur wärmenden Flamme entfacht.
Man muß an die Geschichte vom Rotkehlchen denken, die
Brehm aus eigener Erfahrung mitteilt. "Zwei Rotkehlchen¬
männchen, welche in meinem Heimatsorte gepflegt wurden und
einen und denselben Käfig bewohnten, lebten beständig in Hader
und Streit, mißgönnten sich jeden Bissen, anscheinend selbst
die Luft, welche sie atmeten, und bissen sich aufs heftigste,
jagten sich wenigstens wütend in dem ihnen gegönnten Raume
umher. Da geschah es, daß eins durch einen unglücklichen
Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf be¬
endet. Das gesunde Männchen hatte seinen Groll vergessen,

ſeine tote Genoſſin und war mehrere Tage nicht zu vertreiben.
Es ließ ſich mit Händen greifen und blieb ſchließlich als Ge¬
fangener bei den Leuten.

Wenn die Goldſpechte in Nordamerika glücklich verehelicht
ſind, erzählt Audubon, der alte unvergleichliche Charakterſchilderer,
ſo beginnt jedes Paar „ſofort einen Baumſtamm auszuhöhlen,
um eine Wohnung zu erbauen, welche ihnen und den Jungen
genügt. Beide arbeiten mit größtem Eifer und, wie es ſcheint,
mit größtem Vergnügen. Wenn das Männchen beſchäftigt iſt,
hängt ſich die Gattin dicht daneben und beglückwünſcht es über
jeden Span, welchen ſein Schnabel durch die Luft ſendet.
Wenn er ausruht, ſcheint er mit ihr auf das zierlichſte zu
ſprechen, und wenn er ermüdet iſt, wird er von ihr unterſtützt.
In dieſer Weiſe, und dank der beiderſeitigen Anſtrengung,
wird die Höhle bald ausgemeiſelt und vollendet. Nun liebkoſen
ſie ſich auf den Zweigen, klettern mit wahrem Vergnügen an
den Stämmen der Bäume empor oder um ſie herum, trommeln
mit dem Schnabel an abgeſtorbene Zweige, verjagen ihre
Vettern, die Rotköpfe, verteidigen das Neſt gegen die Purpur¬
ſtare, kichern und lachen dazwiſchen“.

Wer da weiß, wie ſtark im Vogel überhaupt Solidaritäts¬
gefühle vorhanden ſein können, den wird es keinen Moment
wundernehmen, daß dieſe eheliche Lebensgemeinſchaft ſie auch
über das Erotiſche hinaus zur wärmenden Flamme entfacht.
Man muß an die Geſchichte vom Rotkehlchen denken, die
Brehm aus eigener Erfahrung mitteilt. „Zwei Rotkehlchen¬
männchen, welche in meinem Heimatsorte gepflegt wurden und
einen und denſelben Käfig bewohnten, lebten beſtändig in Hader
und Streit, mißgönnten ſich jeden Biſſen, anſcheinend ſelbſt
die Luft, welche ſie atmeten, und biſſen ſich aufs heftigſte,
jagten ſich wenigſtens wütend in dem ihnen gegönnten Raume
umher. Da geſchah es, daß eins durch einen unglücklichen
Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf be¬
endet. Das geſunde Männchen hatte ſeinen Groll vergeſſen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="165"/>
&#x017F;eine tote Geno&#x017F;&#x017F;in und war mehrere Tage nicht zu vertreiben.<lb/>
Es ließ &#x017F;ich mit Händen greifen und blieb &#x017F;chließlich als Ge¬<lb/>
fangener bei den Leuten.</p><lb/>
        <p>Wenn die Gold&#x017F;pechte in Nordamerika glücklich verehelicht<lb/>
&#x017F;ind, erzählt Audubon, der alte unvergleichliche Charakter&#x017F;childerer,<lb/>
&#x017F;o beginnt jedes Paar &#x201E;&#x017F;ofort einen Baum&#x017F;tamm auszuhöhlen,<lb/>
um eine Wohnung zu erbauen, welche ihnen und den Jungen<lb/>
genügt. Beide arbeiten mit größtem Eifer und, wie es &#x017F;cheint,<lb/>
mit größtem Vergnügen. Wenn das Männchen be&#x017F;chäftigt i&#x017F;t,<lb/>
hängt &#x017F;ich die Gattin dicht daneben und beglückwün&#x017F;cht es über<lb/>
jeden Span, welchen &#x017F;ein Schnabel durch die Luft &#x017F;endet.<lb/>
Wenn er ausruht, &#x017F;cheint er mit ihr auf das zierlich&#x017F;te zu<lb/>
&#x017F;prechen, und wenn er ermüdet i&#x017F;t, wird er von ihr unter&#x017F;tützt.<lb/>
In die&#x017F;er Wei&#x017F;e, und dank der beider&#x017F;eitigen An&#x017F;trengung,<lb/>
wird die Höhle bald ausgemei&#x017F;elt und vollendet. Nun liebko&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich auf den Zweigen, klettern mit wahrem Vergnügen an<lb/>
den Stämmen der Bäume empor oder um &#x017F;ie herum, trommeln<lb/>
mit dem Schnabel an abge&#x017F;torbene Zweige, verjagen ihre<lb/>
Vettern, die Rotköpfe, verteidigen das Ne&#x017F;t gegen die Purpur¬<lb/>
&#x017F;tare, kichern und lachen dazwi&#x017F;chen&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Wer da weiß, wie &#x017F;tark im Vogel überhaupt Solidaritäts¬<lb/>
gefühle vorhanden &#x017F;ein können, den wird es keinen Moment<lb/>
wundernehmen, daß die&#x017F;e eheliche Lebensgemein&#x017F;chaft &#x017F;ie auch<lb/>
über das Eroti&#x017F;che hinaus zur wärmenden Flamme entfacht.<lb/>
Man muß an die Ge&#x017F;chichte vom Rotkehlchen denken, die<lb/>
Brehm aus eigener Erfahrung mitteilt. &#x201E;Zwei Rotkehlchen¬<lb/>
männchen, welche in meinem Heimatsorte gepflegt wurden und<lb/>
einen und den&#x017F;elben Käfig bewohnten, lebten be&#x017F;tändig in Hader<lb/>
und Streit, mißgönnten &#x017F;ich jeden Bi&#x017F;&#x017F;en, an&#x017F;cheinend &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die Luft, welche &#x017F;ie atmeten, und bi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich aufs heftig&#x017F;te,<lb/>
jagten &#x017F;ich wenig&#x017F;tens wütend in dem ihnen gegönnten Raume<lb/>
umher. Da ge&#x017F;chah es, daß eins durch einen unglücklichen<lb/>
Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf be¬<lb/>
endet. Das ge&#x017F;unde Männchen hatte &#x017F;einen Groll verge&#x017F;&#x017F;en,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0179] ſeine tote Genoſſin und war mehrere Tage nicht zu vertreiben. Es ließ ſich mit Händen greifen und blieb ſchließlich als Ge¬ fangener bei den Leuten. Wenn die Goldſpechte in Nordamerika glücklich verehelicht ſind, erzählt Audubon, der alte unvergleichliche Charakterſchilderer, ſo beginnt jedes Paar „ſofort einen Baumſtamm auszuhöhlen, um eine Wohnung zu erbauen, welche ihnen und den Jungen genügt. Beide arbeiten mit größtem Eifer und, wie es ſcheint, mit größtem Vergnügen. Wenn das Männchen beſchäftigt iſt, hängt ſich die Gattin dicht daneben und beglückwünſcht es über jeden Span, welchen ſein Schnabel durch die Luft ſendet. Wenn er ausruht, ſcheint er mit ihr auf das zierlichſte zu ſprechen, und wenn er ermüdet iſt, wird er von ihr unterſtützt. In dieſer Weiſe, und dank der beiderſeitigen Anſtrengung, wird die Höhle bald ausgemeiſelt und vollendet. Nun liebkoſen ſie ſich auf den Zweigen, klettern mit wahrem Vergnügen an den Stämmen der Bäume empor oder um ſie herum, trommeln mit dem Schnabel an abgeſtorbene Zweige, verjagen ihre Vettern, die Rotköpfe, verteidigen das Neſt gegen die Purpur¬ ſtare, kichern und lachen dazwiſchen“. Wer da weiß, wie ſtark im Vogel überhaupt Solidaritäts¬ gefühle vorhanden ſein können, den wird es keinen Moment wundernehmen, daß dieſe eheliche Lebensgemeinſchaft ſie auch über das Erotiſche hinaus zur wärmenden Flamme entfacht. Man muß an die Geſchichte vom Rotkehlchen denken, die Brehm aus eigener Erfahrung mitteilt. „Zwei Rotkehlchen¬ männchen, welche in meinem Heimatsorte gepflegt wurden und einen und denſelben Käfig bewohnten, lebten beſtändig in Hader und Streit, mißgönnten ſich jeden Biſſen, anſcheinend ſelbſt die Luft, welche ſie atmeten, und biſſen ſich aufs heftigſte, jagten ſich wenigſtens wütend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geſchah es, daß eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf be¬ endet. Das geſunde Männchen hatte ſeinen Groll vergeſſen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/179
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/179>, abgerufen am 17.05.2024.