herr zu Frauenburg klappt das letzte Blatt seines Ptolemäus um, nachdem er ihn endlich ganz ausverdaut hat, und zeichnet auf die freie Schlußseite einen Punkt: die Sonne, und einen Kreis darum: die Erdbahn. Aus diesem Punkt und Kreis bricht eine neue Weltanschauung.
Seitdem ist die Zeit wieder so wirbelnd schnell gelaufen. Unsere geistige Riesenfütterung steht uns aus dem Munde wie den Knaben Max und Moritz ihr letztes gestohlenes Hühner¬ bein vom Topf der Witwe Bolte. Wo wird sich unser Kloster bauen?
Laß uns im Geiste wenigstens schon in solcher Zelle sein bei unserem letzten Gespräch von der Liebe.
Noch liegt uns ob, eine Reihe Jahrgänge Menschheitsliebe zu proben. Hinter jedem Faß steht sein Jahr. Dieses Jahr ist Frühling mit wilden Knospen, ist sinnberauschender Reben¬ duft. Aber es ist auch Hagelschlag und blaue Blitze. Doch in der Klosterzelle ist's Ruhe, klarer Trank. Hebe den alten Römer gegen das Licht .... das schäumt nicht mehr, -- ausgeklärtes Menschengold. Es liegen Gespensterfässer dabei, unheimliche, schwarze, die Fässer aus den Kometenjahren, da schreckhafte Gestirne ihre ungeheuren Schwänze über den Himmel der Menschheitsseele schleppten. Ist aber auch alles hin, und der Wein ist rein. Es sind der Fässer so viele. Wir können nicht alle öffnen. Nur die seltsamsten noch, die mit den ganz großen Nummern und Schnörkeln, -- auf Stichproben.
Menschheit, -- Wundertier! Was sind gegen dich alle Sterne, Ichthyosaurier, Spinnen und Bandwürmer. Du bist in allem die Krone. Im Licht und in der Rappeligkeit. An deiner ungeheuerlichen Phantasie hat es nicht gelegen, daß der Liebeskahn nicht zum Schluß auf diesem blauen Welten¬ meer noch zum regelrechten Narrenschiff geworden ist. Aber auf diesem Narrenschiff saß in all deinen Jahrtausenden ein stiller, vermummter Steuermann: das größte, tiefste Zauber¬
1*
herr zu Frauenburg klappt das letzte Blatt ſeines Ptolemäus um, nachdem er ihn endlich ganz ausverdaut hat, und zeichnet auf die freie Schlußſeite einen Punkt: die Sonne, und einen Kreis darum: die Erdbahn. Aus dieſem Punkt und Kreis bricht eine neue Weltanſchauung.
Seitdem iſt die Zeit wieder ſo wirbelnd ſchnell gelaufen. Unſere geiſtige Rieſenfütterung ſteht uns aus dem Munde wie den Knaben Max und Moritz ihr letztes geſtohlenes Hühner¬ bein vom Topf der Witwe Bolte. Wo wird ſich unſer Kloſter bauen?
Laß uns im Geiſte wenigſtens ſchon in ſolcher Zelle ſein bei unſerem letzten Geſpräch von der Liebe.
Noch liegt uns ob, eine Reihe Jahrgänge Menſchheitsliebe zu proben. Hinter jedem Faß ſteht ſein Jahr. Dieſes Jahr iſt Frühling mit wilden Knoſpen, iſt ſinnberauſchender Reben¬ duft. Aber es iſt auch Hagelſchlag und blaue Blitze. Doch in der Kloſterzelle iſt's Ruhe, klarer Trank. Hebe den alten Römer gegen das Licht .... das ſchäumt nicht mehr, — ausgeklärtes Menſchengold. Es liegen Geſpenſterfäſſer dabei, unheimliche, ſchwarze, die Fäſſer aus den Kometenjahren, da ſchreckhafte Geſtirne ihre ungeheuren Schwänze über den Himmel der Menſchheitsſeele ſchleppten. Iſt aber auch alles hin, und der Wein iſt rein. Es ſind der Fäſſer ſo viele. Wir können nicht alle öffnen. Nur die ſeltſamſten noch, die mit den ganz großen Nummern und Schnörkeln, — auf Stichproben.
Menſchheit, — Wundertier! Was ſind gegen dich alle Sterne, Ichthyoſaurier, Spinnen und Bandwürmer. Du biſt in allem die Krone. Im Licht und in der Rappeligkeit. An deiner ungeheuerlichen Phantaſie hat es nicht gelegen, daß der Liebeskahn nicht zum Schluß auf dieſem blauen Welten¬ meer noch zum regelrechten Narrenſchiff geworden iſt. Aber auf dieſem Narrenſchiff ſaß in all deinen Jahrtauſenden ein ſtiller, vermummter Steuermann: das größte, tiefſte Zauber¬
1*
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0017"n="3"/>
herr zu Frauenburg klappt das letzte Blatt ſeines Ptolemäus<lb/>
um, nachdem er ihn endlich ganz ausverdaut hat, und zeichnet<lb/>
auf die freie Schlußſeite einen Punkt: die Sonne, und einen<lb/>
Kreis darum: die Erdbahn. Aus dieſem Punkt und Kreis<lb/>
bricht eine neue Weltanſchauung.</p><lb/><p>Seitdem iſt die Zeit wieder ſo wirbelnd ſchnell gelaufen.<lb/>
Unſere geiſtige Rieſenfütterung ſteht uns aus dem Munde wie<lb/>
den Knaben Max und Moritz ihr letztes geſtohlenes Hühner¬<lb/>
bein vom Topf der Witwe Bolte. Wo wird ſich unſer Kloſter<lb/>
bauen?</p><lb/><p>Laß uns im Geiſte wenigſtens ſchon in ſolcher Zelle<lb/>ſein bei unſerem letzten Geſpräch von der Liebe.</p><lb/><p>Noch liegt uns ob, eine Reihe Jahrgänge Menſchheitsliebe<lb/>
zu proben. Hinter jedem Faß ſteht ſein Jahr. Dieſes Jahr<lb/>
iſt Frühling mit wilden Knoſpen, iſt ſinnberauſchender Reben¬<lb/>
duft. Aber es iſt auch Hagelſchlag und blaue Blitze. Doch<lb/>
in der Kloſterzelle iſt's Ruhe, klarer Trank. Hebe den alten<lb/>
Römer gegen das Licht .... das ſchäumt nicht mehr, —<lb/>
ausgeklärtes Menſchengold. Es liegen Geſpenſterfäſſer dabei,<lb/>
unheimliche, ſchwarze, die Fäſſer aus den Kometenjahren, da<lb/>ſchreckhafte Geſtirne ihre ungeheuren Schwänze über den<lb/>
Himmel der Menſchheitsſeele ſchleppten. Iſt aber auch alles<lb/>
hin, und der Wein iſt rein. Es ſind der Fäſſer ſo viele.<lb/>
Wir können nicht alle öffnen. Nur die ſeltſamſten noch, die<lb/>
mit den ganz großen Nummern und Schnörkeln, — auf<lb/>
Stichproben.</p><lb/><p>Menſchheit, — Wundertier! Was ſind gegen dich alle<lb/>
Sterne, Ichthyoſaurier, Spinnen und Bandwürmer. Du biſt<lb/>
in allem die Krone. Im Licht und in der Rappeligkeit. An<lb/>
deiner ungeheuerlichen Phantaſie hat es nicht gelegen, daß<lb/>
der Liebeskahn nicht zum Schluß auf dieſem blauen Welten¬<lb/>
meer noch zum regelrechten Narrenſchiff geworden iſt. Aber<lb/>
auf dieſem Narrenſchiff ſaß in all deinen Jahrtauſenden ein<lb/>ſtiller, vermummter Steuermann: das größte, tiefſte Zauber¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig">1*<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[3/0017]
herr zu Frauenburg klappt das letzte Blatt ſeines Ptolemäus
um, nachdem er ihn endlich ganz ausverdaut hat, und zeichnet
auf die freie Schlußſeite einen Punkt: die Sonne, und einen
Kreis darum: die Erdbahn. Aus dieſem Punkt und Kreis
bricht eine neue Weltanſchauung.
Seitdem iſt die Zeit wieder ſo wirbelnd ſchnell gelaufen.
Unſere geiſtige Rieſenfütterung ſteht uns aus dem Munde wie
den Knaben Max und Moritz ihr letztes geſtohlenes Hühner¬
bein vom Topf der Witwe Bolte. Wo wird ſich unſer Kloſter
bauen?
Laß uns im Geiſte wenigſtens ſchon in ſolcher Zelle
ſein bei unſerem letzten Geſpräch von der Liebe.
Noch liegt uns ob, eine Reihe Jahrgänge Menſchheitsliebe
zu proben. Hinter jedem Faß ſteht ſein Jahr. Dieſes Jahr
iſt Frühling mit wilden Knoſpen, iſt ſinnberauſchender Reben¬
duft. Aber es iſt auch Hagelſchlag und blaue Blitze. Doch
in der Kloſterzelle iſt's Ruhe, klarer Trank. Hebe den alten
Römer gegen das Licht .... das ſchäumt nicht mehr, —
ausgeklärtes Menſchengold. Es liegen Geſpenſterfäſſer dabei,
unheimliche, ſchwarze, die Fäſſer aus den Kometenjahren, da
ſchreckhafte Geſtirne ihre ungeheuren Schwänze über den
Himmel der Menſchheitsſeele ſchleppten. Iſt aber auch alles
hin, und der Wein iſt rein. Es ſind der Fäſſer ſo viele.
Wir können nicht alle öffnen. Nur die ſeltſamſten noch, die
mit den ganz großen Nummern und Schnörkeln, — auf
Stichproben.
Menſchheit, — Wundertier! Was ſind gegen dich alle
Sterne, Ichthyoſaurier, Spinnen und Bandwürmer. Du biſt
in allem die Krone. Im Licht und in der Rappeligkeit. An
deiner ungeheuerlichen Phantaſie hat es nicht gelegen, daß
der Liebeskahn nicht zum Schluß auf dieſem blauen Welten¬
meer noch zum regelrechten Narrenſchiff geworden iſt. Aber
auf dieſem Narrenſchiff ſaß in all deinen Jahrtauſenden ein
ſtiller, vermummter Steuermann: das größte, tiefſte Zauber¬
1*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/17>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.