menschheit und das verschiebt vorläufig für diesen ganzen Teil die Dinge weit bis hinaus über ihre, sei es noch so starke, sittliche Kraft. Sie können nicht objektivieren, weil ein Trieb im Subjektiven zu übermächtig ist durch Nichtbefriedigung. Der Kulturmensch ist in einer Unmasse von Fällen nicht der besonnene Mensch, der da sagt "Alles zu seiner Zeit" und der danach die Linie schätzt vom Symbol des Wilden bis zu unserer "Moral," -- sondern er ist der unfreiwillige Asket, in dem es brüllt von Verlangen, bloß einmal sich erotisch aus¬ leben zu dürfen, und der durch alle Spalten starrt, ob es denn niemals "Zeit" sei. Er beugt sich zähneknirschend unter die Moral, weil sie ihn wenigstens auf viele Momente vergessen läßt, was er glühend begehrt und niemals erlangt. Und er flucht mit den glühenden Augen des Fanatikers der Kunst wie der unbefangenen Wissenschaft, die von ihrer Reine aus achtlos das Nackte rehabilitieren, -- er ruft vor ihnen nach dem Mantel der "Moral", genau wie der arme Heißhungrige die gemalte Traube verhängt, damit sie ihn nicht fort und fort auch noch reize, ohne ihn wirklich physisch zu sättigen.
Die wahre Rolle der Moral, die wahre Aufgabe von Wissenschaft und Kunst aber kennt er noch gar nicht, -- kann der Unglückliche nicht kennen.
Die echte Moral ist eine Diät für Gesunde. Die echte Kunst ist ein steigerndes Entwickelungsprinzip in der Menschheit, das als solches natürlich auch nur beim gesundesten Höhen¬ typus einsetzen kann. Der Kranke weiß mit beidem nichts anzufangen.
Wer physisch und geistig mit einer chronischen Blutstauung in das Museum voll nackter Statuen und Bilder tritt, der ist von Anfang an verloren für den "Zweck" dieses Museums. Wie sollte er gar vor lebendiger Nacktheit sittlich bestehen! Es ginge über Menschliches hinaus, was von ihm verlangt wird.
Das war ja auch eine der grundbösen Fehlerquellen im Cölibat, daß es solche Unbefriedigten schuf, solche ewigen Durst¬
menſchheit und das verſchiebt vorläufig für dieſen ganzen Teil die Dinge weit bis hinaus über ihre, ſei es noch ſo ſtarke, ſittliche Kraft. Sie können nicht objektivieren, weil ein Trieb im Subjektiven zu übermächtig iſt durch Nichtbefriedigung. Der Kulturmenſch iſt in einer Unmaſſe von Fällen nicht der beſonnene Menſch, der da ſagt „Alles zu ſeiner Zeit“ und der danach die Linie ſchätzt vom Symbol des Wilden bis zu unſerer „Moral,“ — ſondern er iſt der unfreiwillige Asket, in dem es brüllt von Verlangen, bloß einmal ſich erotiſch aus¬ leben zu dürfen, und der durch alle Spalten ſtarrt, ob es denn niemals „Zeit“ ſei. Er beugt ſich zähneknirſchend unter die Moral, weil ſie ihn wenigſtens auf viele Momente vergeſſen läßt, was er glühend begehrt und niemals erlangt. Und er flucht mit den glühenden Augen des Fanatikers der Kunſt wie der unbefangenen Wiſſenſchaft, die von ihrer Reine aus achtlos das Nackte rehabilitieren, — er ruft vor ihnen nach dem Mantel der „Moral“, genau wie der arme Heißhungrige die gemalte Traube verhängt, damit ſie ihn nicht fort und fort auch noch reize, ohne ihn wirklich phyſiſch zu ſättigen.
Die wahre Rolle der Moral, die wahre Aufgabe von Wiſſenſchaft und Kunſt aber kennt er noch gar nicht, — kann der Unglückliche nicht kennen.
Die echte Moral iſt eine Diät für Geſunde. Die echte Kunſt iſt ein ſteigerndes Entwickelungsprinzip in der Menſchheit, das als ſolches natürlich auch nur beim geſundeſten Höhen¬ typus einſetzen kann. Der Kranke weiß mit beidem nichts anzufangen.
Wer phyſiſch und geiſtig mit einer chroniſchen Blutſtauung in das Muſeum voll nackter Statuen und Bilder tritt, der iſt von Anfang an verloren für den „Zweck“ dieſes Muſeums. Wie ſollte er gar vor lebendiger Nacktheit ſittlich beſtehen! Es ginge über Menſchliches hinaus, was von ihm verlangt wird.
Das war ja auch eine der grundböſen Fehlerquellen im Cölibat, daß es ſolche Unbefriedigten ſchuf, ſolche ewigen Durſt¬
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menſchheit und das verſchiebt vorläufig für dieſen ganzen Teil
die Dinge weit bis hinaus über ihre, ſei es noch ſo ſtarke,
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im Subjektiven zu übermächtig iſt durch Nichtbefriedigung.
Der Kulturmenſch iſt in einer Unmaſſe von Fällen nicht der
beſonnene Menſch, der da ſagt „Alles zu ſeiner Zeit“ und der
danach die Linie ſchätzt vom Symbol des Wilden bis zu
unſerer „Moral,“ — ſondern er iſt der unfreiwillige Asket,
in dem es brüllt von Verlangen, bloß einmal ſich erotiſch aus¬
leben zu dürfen, und der durch alle Spalten ſtarrt, ob es denn
niemals „Zeit“ ſei. Er beugt ſich zähneknirſchend unter die
Moral, weil ſie ihn wenigſtens auf viele Momente vergeſſen
läßt, was er glühend begehrt und niemals erlangt. Und er
flucht mit den glühenden Augen des Fanatikers der Kunſt wie
der unbefangenen Wiſſenſchaft, die von ihrer Reine aus achtlos
das Nackte rehabilitieren, — er ruft vor ihnen nach dem
Mantel der „Moral“, genau wie der arme Heißhungrige die
gemalte Traube verhängt, damit ſie ihn nicht fort und fort
auch noch reize, ohne ihn wirklich phyſiſch zu ſättigen.
Die wahre Rolle der Moral, die wahre Aufgabe von
Wiſſenſchaft und Kunſt aber kennt er noch gar nicht, — kann
der Unglückliche nicht kennen.
Die echte Moral iſt eine Diät für Geſunde. Die echte
Kunſt iſt ein ſteigerndes Entwickelungsprinzip in der Menſchheit,
das als ſolches natürlich auch nur beim geſundeſten Höhen¬
typus einſetzen kann. Der Kranke weiß mit beidem nichts
anzufangen.
Wer phyſiſch und geiſtig mit einer chroniſchen Blutſtauung
in das Muſeum voll nackter Statuen und Bilder tritt, der iſt
von Anfang an verloren für den „Zweck“ dieſes Muſeums.
Wie ſollte er gar vor lebendiger Nacktheit ſittlich beſtehen!
Es ginge über Menſchliches hinaus, was von ihm verlangt wird.
Das war ja auch eine der grundböſen Fehlerquellen im
Cölibat, daß es ſolche Unbefriedigten ſchuf, ſolche ewigen Durſt¬
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/157>, abgerufen am 23.11.2024.
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