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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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uraltes Überbleibsel darstellt am Menschenleibe. Da trifft nun
bei ihm wahrscheinlich etwas ähnliches zu wie beim Jungfern¬
häutchen und bei der Mannesvorhaut: unter Umständen führt
er heute zu gewissen Konflikten, weil er nicht mehr in das
jetzt Vorhandene ganz hinein passen will. Wir haben ja andere
"rudimentäre Organe" in uns, die nicht selten geradezu lebens¬
gefährlich werden können, so den bekannten Wurmfortsatz am
Blinddarm, den Sitz der bösen Blindarmentzündung. Denkst
du dir nun, daß bei einzelnen Menschenstämmen der Erde
eine natürliche Neigung der körperbildenden Kraft bestehe, diesen
Kitzler doch noch ziemlich stark immer wieder vorzudrängen,
so wird wohl begreiflich, daß man dort schließlich zu einer
rohen Operation sich entschloß: man stutzte schon beim kleinen
Mädchen diesen störenden Auswuchs wie wir einem Hunde die
Ohren oder den Schwanz stutzen.

Einen Schritt von da zum Knaben -- und du stehst vor
dem uralt ehrwürdigen Brauche der "Beschneidung" selbst.

Was heute der Arzt bei uns an dem kleinen Kindlein
thut, wenn jener Schutzverschluß ihm als sogenannte "Phimose"
allzu stark erscheint, das erfaßte der Wilde, erfaßten erwachende
Kulturvölker in grauen Tagen als eine Notwendigkeit all¬
gemein. Mit hartem Steinmesser schnitt der Mensch die allzu
vordringliche Schutzhülle der Gliedspitze einfach ab, -- er
"beschnitt" das Glied. Sein erstes Werkzeug war der Stein.
Wir haben schon bei der Nabelschnur gesehen, wie gerade das
Abpressen, Abquetschen durch einen Stein ein praktisches Vor¬
kehrmittel gegen allzu heftige Blutung umschließt. Aus diesem
Grunde ist, auch als bei den Kulturvölkern das metallene
Werkzeug das steinerne und beinerne ablöste, für den Be¬
schneidungsakt das Steinmesser ausnahmsweise in Gebrauch
geblieben. Und das hielt sich, als selbst die Medizin weit
genug war, auch eine Blutung aus Metallschnitt zu stillen.
Religiöse Mythen umwebten das steinerne und beinerne Be¬
schneidungsmesser in Tagen, da sein Zweck längst vergessen

uraltes Überbleibſel darſtellt am Menſchenleibe. Da trifft nun
bei ihm wahrſcheinlich etwas ähnliches zu wie beim Jungfern¬
häutchen und bei der Mannesvorhaut: unter Umſtänden führt
er heute zu gewiſſen Konflikten, weil er nicht mehr in das
jetzt Vorhandene ganz hinein paſſen will. Wir haben ja andere
„rudimentäre Organe“ in uns, die nicht ſelten geradezu lebens¬
gefährlich werden können, ſo den bekannten Wurmfortſatz am
Blinddarm, den Sitz der böſen Blindarmentzündung. Denkſt
du dir nun, daß bei einzelnen Menſchenſtämmen der Erde
eine natürliche Neigung der körperbildenden Kraft beſtehe, dieſen
Kitzler doch noch ziemlich ſtark immer wieder vorzudrängen,
ſo wird wohl begreiflich, daß man dort ſchließlich zu einer
rohen Operation ſich entſchloß: man ſtutzte ſchon beim kleinen
Mädchen dieſen ſtörenden Auswuchs wie wir einem Hunde die
Ohren oder den Schwanz ſtutzen.

Einen Schritt von da zum Knaben — und du ſtehſt vor
dem uralt ehrwürdigen Brauche der „Beſchneidung“ ſelbſt.

Was heute der Arzt bei uns an dem kleinen Kindlein
thut, wenn jener Schutzverſchluß ihm als ſogenannte „Phimoſe“
allzu ſtark erſcheint, das erfaßte der Wilde, erfaßten erwachende
Kulturvölker in grauen Tagen als eine Notwendigkeit all¬
gemein. Mit hartem Steinmeſſer ſchnitt der Menſch die allzu
vordringliche Schutzhülle der Gliedſpitze einfach ab, — er
„beſchnitt“ das Glied. Sein erſtes Werkzeug war der Stein.
Wir haben ſchon bei der Nabelſchnur geſehen, wie gerade das
Abpreſſen, Abquetſchen durch einen Stein ein praktiſches Vor¬
kehrmittel gegen allzu heftige Blutung umſchließt. Aus dieſem
Grunde iſt, auch als bei den Kulturvölkern das metallene
Werkzeug das ſteinerne und beinerne ablöſte, für den Be¬
ſchneidungsakt das Steinmeſſer ausnahmsweiſe in Gebrauch
geblieben. Und das hielt ſich, als ſelbſt die Medizin weit
genug war, auch eine Blutung aus Metallſchnitt zu ſtillen.
Religiöſe Mythen umwebten das ſteinerne und beinerne Be¬
ſchneidungsmeſſer in Tagen, da ſein Zweck längſt vergeſſen

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[119/0133] uraltes Überbleibſel darſtellt am Menſchenleibe. Da trifft nun bei ihm wahrſcheinlich etwas ähnliches zu wie beim Jungfern¬ häutchen und bei der Mannesvorhaut: unter Umſtänden führt er heute zu gewiſſen Konflikten, weil er nicht mehr in das jetzt Vorhandene ganz hinein paſſen will. Wir haben ja andere „rudimentäre Organe“ in uns, die nicht ſelten geradezu lebens¬ gefährlich werden können, ſo den bekannten Wurmfortſatz am Blinddarm, den Sitz der böſen Blindarmentzündung. Denkſt du dir nun, daß bei einzelnen Menſchenſtämmen der Erde eine natürliche Neigung der körperbildenden Kraft beſtehe, dieſen Kitzler doch noch ziemlich ſtark immer wieder vorzudrängen, ſo wird wohl begreiflich, daß man dort ſchließlich zu einer rohen Operation ſich entſchloß: man ſtutzte ſchon beim kleinen Mädchen dieſen ſtörenden Auswuchs wie wir einem Hunde die Ohren oder den Schwanz ſtutzen. Einen Schritt von da zum Knaben — und du ſtehſt vor dem uralt ehrwürdigen Brauche der „Beſchneidung“ ſelbſt. Was heute der Arzt bei uns an dem kleinen Kindlein thut, wenn jener Schutzverſchluß ihm als ſogenannte „Phimoſe“ allzu ſtark erſcheint, das erfaßte der Wilde, erfaßten erwachende Kulturvölker in grauen Tagen als eine Notwendigkeit all¬ gemein. Mit hartem Steinmeſſer ſchnitt der Menſch die allzu vordringliche Schutzhülle der Gliedſpitze einfach ab, — er „beſchnitt“ das Glied. Sein erſtes Werkzeug war der Stein. Wir haben ſchon bei der Nabelſchnur geſehen, wie gerade das Abpreſſen, Abquetſchen durch einen Stein ein praktiſches Vor¬ kehrmittel gegen allzu heftige Blutung umſchließt. Aus dieſem Grunde iſt, auch als bei den Kulturvölkern das metallene Werkzeug das ſteinerne und beinerne ablöſte, für den Be¬ ſchneidungsakt das Steinmeſſer ausnahmsweiſe in Gebrauch geblieben. Und das hielt ſich, als ſelbſt die Medizin weit genug war, auch eine Blutung aus Metallſchnitt zu ſtillen. Religiöſe Mythen umwebten das ſteinerne und beinerne Be¬ ſchneidungsmeſſer in Tagen, da ſein Zweck längſt vergeſſen

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/133>, abgerufen am 25.11.2024.