absoluter Paradiesesnacktheit. Das ist, wie wenn ein Gott nackt dargestellt wird. Die Dinge liegen so hoch, daß die erotische Sphäre überhaupt versunken ist. So springt der irrende Ritter nackt aus dem Bade, um der bedrängten Un¬ schuld zu helfen. In jenem Falle war das nackte Hofzeremo¬ niell zugleich das denkbar höchste Vertrauensvotum für den Besucher.
Am vielseitig lehrreichsten liegen die ganzen Dinge wieder bei jenen nackten Indianern Zentral-Brasiliens. Wie in ein Musterbeispiel erscheint da alles zusammengedrängt.
Der Bakairi-Mann (ich gebrauche das Wort hier meist als Kollektivbezeichnung, obwohl es strenggenommen nur einen dieser Indianerstämme nennt) ist absolut nackt im Sinne von Kleidung. Statt deren bemalt er sich auf der nackten Haut. Sein Kopfhaar dreht er zu Locken und unterbricht er nach uraltem Brauch durch priesterhafte Tonsuren. Gegen die Reste des übrigen Körperhaars führt er heftigen Krieg, vor allem die Schamhaare. Um den Unterleib aber trägt er eine Schnur, einen Baumwollfaden. Ausnahmslos jeder Mann trägt ihn. An der Schnur hängen meist allerlei Nippes, durch¬ bohrte Samenkerne, Fragmente von Schneckenhäusern und der¬ gleichen. Aber ein echter Traggürtel ist's nicht, denn wenn der Indianer sein Handwerkszeug, Muscheln oder scharfe Fisch¬ gebisse oder ein geschenktes Messer, tragen soll, so hat er zwar keine Tasche dafür am nackten Leibe, aber er hängt's an besonderem Strick um die Schulter.
So könnte es dir zuerst fast scheinen, als sei auch das Bauchschnürlein bloß ein kleiner Vorrat an Bindfaden für den Notfall. Weit gefehlt: es ist das männliche Symbol. Es verdeckt allerdings absolut nichts. Vergebens suchst du das etwa davon herabhängende Feigenblatt. Immerhin aber stellt sich dir doch beim längeren Besehen die deutlichste Ähnlichkeit mit jener Verschlußschnur der Eskimos auch hier dar. Der junge Mann, der in die Liebesjahre tritt, wird angehalten,
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abſoluter Paradieſesnacktheit. Das iſt, wie wenn ein Gott nackt dargeſtellt wird. Die Dinge liegen ſo hoch, daß die erotiſche Sphäre überhaupt verſunken iſt. So ſpringt der irrende Ritter nackt aus dem Bade, um der bedrängten Un¬ ſchuld zu helfen. In jenem Falle war das nackte Hofzeremo¬ niell zugleich das denkbar höchſte Vertrauensvotum für den Beſucher.
Am vielſeitig lehrreichſten liegen die ganzen Dinge wieder bei jenen nackten Indianern Zentral-Braſiliens. Wie in ein Muſterbeiſpiel erſcheint da alles zuſammengedrängt.
Der Bakaïrí-Mann (ich gebrauche das Wort hier meiſt als Kollektivbezeichnung, obwohl es ſtrenggenommen nur einen dieſer Indianerſtämme nennt) iſt abſolut nackt im Sinne von Kleidung. Statt deren bemalt er ſich auf der nackten Haut. Sein Kopfhaar dreht er zu Locken und unterbricht er nach uraltem Brauch durch prieſterhafte Tonſuren. Gegen die Reſte des übrigen Körperhaars führt er heftigen Krieg, vor allem die Schamhaare. Um den Unterleib aber trägt er eine Schnur, einen Baumwollfaden. Ausnahmslos jeder Mann trägt ihn. An der Schnur hängen meiſt allerlei Nippes, durch¬ bohrte Samenkerne, Fragmente von Schneckenhäuſern und der¬ gleichen. Aber ein echter Traggürtel iſt's nicht, denn wenn der Indianer ſein Handwerkszeug, Muſcheln oder ſcharfe Fiſch¬ gebiſſe oder ein geſchenktes Meſſer, tragen ſoll, ſo hat er zwar keine Taſche dafür am nackten Leibe, aber er hängt's an beſonderem Strick um die Schulter.
So könnte es dir zuerſt faſt ſcheinen, als ſei auch das Bauchſchnürlein bloß ein kleiner Vorrat an Bindfaden für den Notfall. Weit gefehlt: es iſt das männliche Symbol. Es verdeckt allerdings abſolut nichts. Vergebens ſuchſt du das etwa davon herabhängende Feigenblatt. Immerhin aber ſtellt ſich dir doch beim längeren Beſehen die deutlichſte Ähnlichkeit mit jener Verſchlußſchnur der Eskimos auch hier dar. Der junge Mann, der in die Liebesjahre tritt, wird angehalten,
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abſoluter Paradieſesnacktheit. Das iſt, wie wenn ein Gott
nackt dargeſtellt wird. Die Dinge liegen ſo hoch, daß die
erotiſche Sphäre überhaupt verſunken iſt. So ſpringt der
irrende Ritter nackt aus dem Bade, um der bedrängten Un¬
ſchuld zu helfen. In jenem Falle war das nackte Hofzeremo¬
niell zugleich das denkbar höchſte Vertrauensvotum für den
Beſucher.
Am vielſeitig lehrreichſten liegen die ganzen Dinge wieder
bei jenen nackten Indianern Zentral-Braſiliens. Wie in ein
Muſterbeiſpiel erſcheint da alles zuſammengedrängt.
Der Bakaïrí-Mann (ich gebrauche das Wort hier meiſt
als Kollektivbezeichnung, obwohl es ſtrenggenommen nur einen
dieſer Indianerſtämme nennt) iſt abſolut nackt im Sinne von
Kleidung. Statt deren bemalt er ſich auf der nackten Haut.
Sein Kopfhaar dreht er zu Locken und unterbricht er nach
uraltem Brauch durch prieſterhafte Tonſuren. Gegen die
Reſte des übrigen Körperhaars führt er heftigen Krieg, vor
allem die Schamhaare. Um den Unterleib aber trägt er eine
Schnur, einen Baumwollfaden. Ausnahmslos jeder Mann
trägt ihn. An der Schnur hängen meiſt allerlei Nippes, durch¬
bohrte Samenkerne, Fragmente von Schneckenhäuſern und der¬
gleichen. Aber ein echter Traggürtel iſt's nicht, denn wenn
der Indianer ſein Handwerkszeug, Muſcheln oder ſcharfe Fiſch¬
gebiſſe oder ein geſchenktes Meſſer, tragen ſoll, ſo hat er zwar
keine Taſche dafür am nackten Leibe, aber er hängt's an
beſonderem Strick um die Schulter.
So könnte es dir zuerſt faſt ſcheinen, als ſei auch das
Bauchſchnürlein bloß ein kleiner Vorrat an Bindfaden für den
Notfall. Weit gefehlt: es iſt das männliche Symbol. Es
verdeckt allerdings abſolut nichts. Vergebens ſuchſt du das
etwa davon herabhängende Feigenblatt. Immerhin aber ſtellt
ſich dir doch beim längeren Beſehen die deutlichſte Ähnlichkeit
mit jener Verſchlußſchnur der Eskimos auch hier dar. Der
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/127>, abgerufen am 22.11.2024.
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