Mit diesem schlichten Grundgedanken, behaupte ich, kommst du durch das ganze Problem.
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Ich reihe dir eine Anzahl Beispiele, die alle darauf passen, aneinander. Es sind in Summa die seltsamsten des gesamten Schamproblems.
Zuerst selbst hier noch eine kleine Analogie aus dem Tierreich. Bei den Tieren ist durchweg der Wechsel von erotisch aufgelegten und erotisch indifferenten Zeiten scharf an¬ gedeutet durch Körpermerkmale. In der Brunstzeit bilden sich jene lebhafteren Farben und Formen, die man geradezu als "Hochzeitskleider" bezeichnet. In der Nichtbrunst dagegen ist es, als solle eine allgemeine Ruppigkeit das äußere Signal geben: jetzt nicht! Nur in der Brunst glüht die Goldgrundel im Wasser wie mit blauen Edelsteinen geschmückt. Dem Kamm¬ molch schwillt der gezackte Kamm nur in der Liebe, um nach¬ her jämmerlich einzuschrumpfen. Das Blaukehlchen ist außer der Brunstzeit nur mehr wie ein blasser Nebenregenbogen seiner verliebten blau-rot-schwarzen Farbenherrlichkeit. Der Haubensteißfuß giebt im nicht-erotischen Hausrock die gesträubte Tolle her, der Affe die unheimliche Röte seiner verliebten Rückseite. Auch hier kann man ganz gut schon von Signalen sprechen. Und wenn das Weibchen, das noch nicht in der Brunst ist, das Männchen noch scheu abwehrt, so läßt sich das in jenem Sinne immerhin für eine dunkle Vorstufe dessen nehmen, was wir "Scham" nennen: es ist das Benehmen des Wesens, dessen Signal nicht beachtet und verletzt wird. Ich habe dir ja auch schon vom erotischen Duft und seiner Rolle gesprochen. Es lag aber wahrlich nur zu nahe, daß der Mensch mit seiner Werkzeugtechnik, nachdem er einmal die künstliche Bekleidung überhaupt entdeckt hatte, auch das Signal aus dieser neuen Kunst entnahm: also ein Decksignal wählte
Mit dieſem ſchlichten Grundgedanken, behaupte ich, kommſt du durch das ganze Problem.
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Ich reihe dir eine Anzahl Beiſpiele, die alle darauf paſſen, aneinander. Es ſind in Summa die ſeltſamſten des geſamten Schamproblems.
Zuerſt ſelbſt hier noch eine kleine Analogie aus dem Tierreich. Bei den Tieren iſt durchweg der Wechſel von erotiſch aufgelegten und erotiſch indifferenten Zeiten ſcharf an¬ gedeutet durch Körpermerkmale. In der Brunſtzeit bilden ſich jene lebhafteren Farben und Formen, die man geradezu als „Hochzeitskleider“ bezeichnet. In der Nichtbrunſt dagegen iſt es, als ſolle eine allgemeine Ruppigkeit das äußere Signal geben: jetzt nicht! Nur in der Brunſt glüht die Goldgrundel im Waſſer wie mit blauen Edelſteinen geſchmückt. Dem Kamm¬ molch ſchwillt der gezackte Kamm nur in der Liebe, um nach¬ her jämmerlich einzuſchrumpfen. Das Blaukehlchen iſt außer der Brunſtzeit nur mehr wie ein blaſſer Nebenregenbogen ſeiner verliebten blau-rot-ſchwarzen Farbenherrlichkeit. Der Haubenſteißfuß giebt im nicht-erotiſchen Hausrock die geſträubte Tolle her, der Affe die unheimliche Röte ſeiner verliebten Rückſeite. Auch hier kann man ganz gut ſchon von Signalen ſprechen. Und wenn das Weibchen, das noch nicht in der Brunſt iſt, das Männchen noch ſcheu abwehrt, ſo läßt ſich das in jenem Sinne immerhin für eine dunkle Vorſtufe deſſen nehmen, was wir „Scham“ nennen: es iſt das Benehmen des Weſens, deſſen Signal nicht beachtet und verletzt wird. Ich habe dir ja auch ſchon vom erotiſchen Duft und ſeiner Rolle geſprochen. Es lag aber wahrlich nur zu nahe, daß der Menſch mit ſeiner Werkzeugtechnik, nachdem er einmal die künſtliche Bekleidung überhaupt entdeckt hatte, auch das Signal aus dieſer neuen Kunſt entnahm: alſo ein Deckſignal wählte
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Mit dieſem ſchlichten Grundgedanken, behaupte ich, kommſt
du durch das ganze Problem.
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Ich reihe dir eine Anzahl Beiſpiele, die alle darauf
paſſen, aneinander. Es ſind in Summa die ſeltſamſten des
geſamten Schamproblems.
Zuerſt ſelbſt hier noch eine kleine Analogie aus dem
Tierreich. Bei den Tieren iſt durchweg der Wechſel von
erotiſch aufgelegten und erotiſch indifferenten Zeiten ſcharf an¬
gedeutet durch Körpermerkmale. In der Brunſtzeit bilden ſich
jene lebhafteren Farben und Formen, die man geradezu als
„Hochzeitskleider“ bezeichnet. In der Nichtbrunſt dagegen iſt
es, als ſolle eine allgemeine Ruppigkeit das äußere Signal
geben: jetzt nicht! Nur in der Brunſt glüht die Goldgrundel
im Waſſer wie mit blauen Edelſteinen geſchmückt. Dem Kamm¬
molch ſchwillt der gezackte Kamm nur in der Liebe, um nach¬
her jämmerlich einzuſchrumpfen. Das Blaukehlchen iſt außer
der Brunſtzeit nur mehr wie ein blaſſer Nebenregenbogen
ſeiner verliebten blau-rot-ſchwarzen Farbenherrlichkeit. Der
Haubenſteißfuß giebt im nicht-erotiſchen Hausrock die geſträubte
Tolle her, der Affe die unheimliche Röte ſeiner verliebten
Rückſeite. Auch hier kann man ganz gut ſchon von Signalen
ſprechen. Und wenn das Weibchen, das noch nicht in der
Brunſt iſt, das Männchen noch ſcheu abwehrt, ſo läßt ſich das
in jenem Sinne immerhin für eine dunkle Vorſtufe deſſen
nehmen, was wir „Scham“ nennen: es iſt das Benehmen
des Weſens, deſſen Signal nicht beachtet und verletzt wird.
Ich habe dir ja auch ſchon vom erotiſchen Duft und ſeiner
Rolle geſprochen. Es lag aber wahrlich nur zu nahe, daß
der Menſch mit ſeiner Werkzeugtechnik, nachdem er einmal die
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aus dieſer neuen Kunſt entnahm: alſo ein Deckſignal wählte
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/118>, abgerufen am 25.11.2024.
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