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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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alles, was ich als Rhythmotropismus bezeichnet habe, konnte ich
dir zuerst vom Paradiesvogel erzählen, um dann beim Menschen
mich einfach darauf zu beziehen.

Aber nun sollst du ein Tier denken, Affe oder Maus oder
Vogel oder Käfer, das seine Blöße aus Schamgründen ver¬
hüllt -- und du findest nichts mehr. Hier beginnt der Mensch!

[Abbildung]

Bei dem Problem der Entstehung des Schamgefühls
stehst du zunächst freilich wieder vor einer Art philosophischer
Prinzipienfrage.

Weil an dieser Ecke wirklich der "Mensch" im Liebesleben
beginnt, giebt es einen Standpunkt, der den Urmenschen be¬
wußt hier eingreifen läßt, um sich zum erstenmal im Ero¬
tischen als "sittlicher Mensch" zu beweisen.

Der Urmensch, so hören wir, empfand eines Tages, daß
er auf allen anderen Gebieten sich vom "Tier" losgelöst hatte.
Bloß der Geschlechtsakt blieb eine unvermeidlich tierische Sache.
So verhüllte er ihn wenigstens nach Kräften. Er nannte ihn
unanständig, bedeckte alles, was an ihn erinnern konnte. Eine
That der erwachten "Sittlichkeit" war das, -- das heißt des
vom Menschen selber erkannten, ihm verliehenen höheren Welt¬
bodens, der das Tier überwand.

Das klingt nun sehr hübsch. Ich stehe auch selber
durchaus auf dem Standpunkt, daß das Auftreten des Menschen
auf Erden wirklich und wahrhaftig die Eroberung eines solchen
Bodens bedeutete. Nur die Wege denke ich mir doch etwas
anders. Ich meine, es bleibt die Wirkung und Leistung etwa
eines großen Goethe vollauf bestehen, auch ohne daß wir
annehmen müssen, es habe der alte Rat Johann Kaspar der
Vater bei der Erzeugung gesagt: Jetzt werde ich den großen

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alles, was ich als Rhythmotropismus bezeichnet habe, konnte ich
dir zuerſt vom Paradiesvogel erzählen, um dann beim Menſchen
mich einfach darauf zu beziehen.

Aber nun ſollſt du ein Tier denken, Affe oder Maus oder
Vogel oder Käfer, das ſeine Blöße aus Schamgründen ver¬
hüllt — und du findeſt nichts mehr. Hier beginnt der Menſch!

[Abbildung]

Bei dem Problem der Entſtehung des Schamgefühls
ſtehſt du zunächſt freilich wieder vor einer Art philoſophiſcher
Prinzipienfrage.

Weil an dieſer Ecke wirklich der „Menſch“ im Liebesleben
beginnt, giebt es einen Standpunkt, der den Urmenſchen be¬
wußt hier eingreifen läßt, um ſich zum erſtenmal im Ero¬
tiſchen als „ſittlicher Menſch“ zu beweiſen.

Der Urmenſch, ſo hören wir, empfand eines Tages, daß
er auf allen anderen Gebieten ſich vom „Tier“ losgelöſt hatte.
Bloß der Geſchlechtsakt blieb eine unvermeidlich tieriſche Sache.
So verhüllte er ihn wenigſtens nach Kräften. Er nannte ihn
unanſtändig, bedeckte alles, was an ihn erinnern konnte. Eine
That der erwachten „Sittlichkeit“ war das, — das heißt des
vom Menſchen ſelber erkannten, ihm verliehenen höheren Welt¬
bodens, der das Tier überwand.

Das klingt nun ſehr hübſch. Ich ſtehe auch ſelber
durchaus auf dem Standpunkt, daß das Auftreten des Menſchen
auf Erden wirklich und wahrhaftig die Eroberung eines ſolchen
Bodens bedeutete. Nur die Wege denke ich mir doch etwas
anders. Ich meine, es bleibt die Wirkung und Leiſtung etwa
eines großen Goethe vollauf beſtehen, auch ohne daß wir
annehmen müſſen, es habe der alte Rat Johann Kaſpar der
Vater bei der Erzeugung geſagt: Jetzt werde ich den großen

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[99/0113] alles, was ich als Rhythmotropismus bezeichnet habe, konnte ich dir zuerſt vom Paradiesvogel erzählen, um dann beim Menſchen mich einfach darauf zu beziehen. Aber nun ſollſt du ein Tier denken, Affe oder Maus oder Vogel oder Käfer, das ſeine Blöße aus Schamgründen ver¬ hüllt — und du findeſt nichts mehr. Hier beginnt der Menſch! [Abbildung] Bei dem Problem der Entſtehung des Schamgefühls ſtehſt du zunächſt freilich wieder vor einer Art philoſophiſcher Prinzipienfrage. Weil an dieſer Ecke wirklich der „Menſch“ im Liebesleben beginnt, giebt es einen Standpunkt, der den Urmenſchen be¬ wußt hier eingreifen läßt, um ſich zum erſtenmal im Ero¬ tiſchen als „ſittlicher Menſch“ zu beweiſen. Der Urmenſch, ſo hören wir, empfand eines Tages, daß er auf allen anderen Gebieten ſich vom „Tier“ losgelöſt hatte. Bloß der Geſchlechtsakt blieb eine unvermeidlich tieriſche Sache. So verhüllte er ihn wenigſtens nach Kräften. Er nannte ihn unanſtändig, bedeckte alles, was an ihn erinnern konnte. Eine That der erwachten „Sittlichkeit“ war das, — das heißt des vom Menſchen ſelber erkannten, ihm verliehenen höheren Welt¬ bodens, der das Tier überwand. Das klingt nun ſehr hübſch. Ich ſtehe auch ſelber durchaus auf dem Standpunkt, daß das Auftreten des Menſchen auf Erden wirklich und wahrhaftig die Eroberung eines ſolchen Bodens bedeutete. Nur die Wege denke ich mir doch etwas anders. Ich meine, es bleibt die Wirkung und Leiſtung etwa eines großen Goethe vollauf beſtehen, auch ohne daß wir annehmen müſſen, es habe der alte Rat Johann Kaſpar der Vater bei der Erzeugung geſagt: Jetzt werde ich den großen 7*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/113>, abgerufen am 22.11.2024.