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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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An derselben italienischen Küste, zum Beispiel bei Messina,
lebt aber still im Sande von Ufertümpeln verborgen ein Tier,
das gleich noch ein Stück darüber hinausführt. Der Amphioxus
oder Lanzettfisch. Zeit seines Lebens ist er so gebaut wie die
jugendliche Ascidie: er trägt zwischen Rückenmark und Darm
ein knorpeliges Stäblein. Rückensaite (Chorda dorsalis) wird
es vorsichtig genannt. Noch könnte keiner von einem eigent¬
lichen harten Rückgrat sprechen. Das "Brett", das dir als
Geradehalter beim aufrechten Göttergang dienen soll, ist hier
noch ein Kartenblättlein. Aber vorhanden ist es schon, da hilft
nichts. Vom Nebelfleck im Sternbild der Andromeda bis an
diese Stelle giebt es kein uns bekanntes Naturgebilde, das so
sehr deinem soliden Wirbel-Brett gliche wie dieses Kartenblatt
zwischen Mark und Darm des Amphioxus-Fisches.

Und ein erster Fisch ist er. Der niedrigste von allen ja.
Aber jedenfalls schon ein Fisch. Damit jetzt ist die Linie haar¬
scharf bezeichnet, in die dich der Sortier-Apparat geworfen hat.
Mit dem Fisch beginnen die Wirbeltiere. Der vierte jener
höchsten Äste des Tierreichs oberhalb der Würmer. Ein Wirbel¬
tier bist du -- ein Tier vom Amphioxus an aufwärts. Von
hier läßt sich die Leiter jetzt so gut wie ganz glatt abklettern.

Du brauchst nur nochmals an deine Stirn zu klopfen, so
siehst du den ersten engeren Schritt über den Amphioxus hin¬
aus. Du hast nicht bloß das allgemeine Rückgrats-Brett.
Dieses Brett läuft dir oben in eine Kugel aus: den Schädel,
die harte Schutzhülle des Gehirns. Davon hat der Amphioxus
noch keine Spur, sein Knorpelstab zwischen Mark und Darm
läuft vorne wie hinten einfach spitz zu.

Das erste Wirbeltier, das einen Schädel hat, ist das
Neunauge.

Du kennst es als Feinschmecker, hast es aber schwerlich je
so hoch geachtet. Es ist thatsächlich für unsere lebenden Tier¬
arten heute sogar das erste Wirbeltier, das überhaupt ein
Gehirn hat. Wohl ist dieses Gehirn an sich schon ein Besitz¬

An derſelben italieniſchen Küſte, zum Beiſpiel bei Meſſina,
lebt aber ſtill im Sande von Ufertümpeln verborgen ein Tier,
das gleich noch ein Stück darüber hinausführt. Der Amphioxus
oder Lanzettfiſch. Zeit ſeines Lebens iſt er ſo gebaut wie die
jugendliche Ascidie: er trägt zwiſchen Rückenmark und Darm
ein knorpeliges Stäblein. Rückenſaite (Chorda dorsalis) wird
es vorſichtig genannt. Noch könnte keiner von einem eigent¬
lichen harten Rückgrat ſprechen. Das „Brett“, das dir als
Geradehalter beim aufrechten Göttergang dienen ſoll, iſt hier
noch ein Kartenblättlein. Aber vorhanden iſt es ſchon, da hilft
nichts. Vom Nebelfleck im Sternbild der Andromeda bis an
dieſe Stelle giebt es kein uns bekanntes Naturgebilde, das ſo
ſehr deinem ſoliden Wirbel-Brett gliche wie dieſes Kartenblatt
zwiſchen Mark und Darm des Amphioxus-Fiſches.

Und ein erſter Fiſch iſt er. Der niedrigſte von allen ja.
Aber jedenfalls ſchon ein Fiſch. Damit jetzt iſt die Linie haar¬
ſcharf bezeichnet, in die dich der Sortier-Apparat geworfen hat.
Mit dem Fiſch beginnen die Wirbeltiere. Der vierte jener
höchſten Äſte des Tierreichs oberhalb der Würmer. Ein Wirbel¬
tier biſt du — ein Tier vom Amphioxus an aufwärts. Von
hier läßt ſich die Leiter jetzt ſo gut wie ganz glatt abklettern.

Du brauchſt nur nochmals an deine Stirn zu klopfen, ſo
ſiehſt du den erſten engeren Schritt über den Amphioxus hin¬
aus. Du haſt nicht bloß das allgemeine Rückgrats-Brett.
Dieſes Brett läuft dir oben in eine Kugel aus: den Schädel,
die harte Schutzhülle des Gehirns. Davon hat der Amphioxus
noch keine Spur, ſein Knorpelſtab zwiſchen Mark und Darm
läuft vorne wie hinten einfach ſpitz zu.

Das erſte Wirbeltier, das einen Schädel hat, iſt das
Neunauge.

Du kennſt es als Feinſchmecker, haſt es aber ſchwerlich je
ſo hoch geachtet. Es iſt thatſächlich für unſere lebenden Tier¬
arten heute ſogar das erſte Wirbeltier, das überhaupt ein
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[77/0093] An derſelben italieniſchen Küſte, zum Beiſpiel bei Meſſina, lebt aber ſtill im Sande von Ufertümpeln verborgen ein Tier, das gleich noch ein Stück darüber hinausführt. Der Amphioxus oder Lanzettfiſch. Zeit ſeines Lebens iſt er ſo gebaut wie die jugendliche Ascidie: er trägt zwiſchen Rückenmark und Darm ein knorpeliges Stäblein. Rückenſaite (Chorda dorsalis) wird es vorſichtig genannt. Noch könnte keiner von einem eigent¬ lichen harten Rückgrat ſprechen. Das „Brett“, das dir als Geradehalter beim aufrechten Göttergang dienen ſoll, iſt hier noch ein Kartenblättlein. Aber vorhanden iſt es ſchon, da hilft nichts. Vom Nebelfleck im Sternbild der Andromeda bis an dieſe Stelle giebt es kein uns bekanntes Naturgebilde, das ſo ſehr deinem ſoliden Wirbel-Brett gliche wie dieſes Kartenblatt zwiſchen Mark und Darm des Amphioxus-Fiſches. Und ein erſter Fiſch iſt er. Der niedrigſte von allen ja. Aber jedenfalls ſchon ein Fiſch. Damit jetzt iſt die Linie haar¬ ſcharf bezeichnet, in die dich der Sortier-Apparat geworfen hat. Mit dem Fiſch beginnen die Wirbeltiere. Der vierte jener höchſten Äſte des Tierreichs oberhalb der Würmer. Ein Wirbel¬ tier biſt du — ein Tier vom Amphioxus an aufwärts. Von hier läßt ſich die Leiter jetzt ſo gut wie ganz glatt abklettern. Du brauchſt nur nochmals an deine Stirn zu klopfen, ſo ſiehſt du den erſten engeren Schritt über den Amphioxus hin¬ aus. Du haſt nicht bloß das allgemeine Rückgrats-Brett. Dieſes Brett läuft dir oben in eine Kugel aus: den Schädel, die harte Schutzhülle des Gehirns. Davon hat der Amphioxus noch keine Spur, ſein Knorpelſtab zwiſchen Mark und Darm läuft vorne wie hinten einfach ſpitz zu. Das erſte Wirbeltier, das einen Schädel hat, iſt das Neunauge. Du kennſt es als Feinſchmecker, haſt es aber ſchwerlich je ſo hoch geachtet. Es iſt thatſächlich für unſere lebenden Tier¬ arten heute ſogar das erſte Wirbeltier, das überhaupt ein Gehirn hat. Wohl iſt dieſes Gehirn an ſich ſchon ein Beſitz¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/93>, abgerufen am 23.11.2024.