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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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und Wurm in die engere Wahl geraten, alsbald noch mehrere
andere Organe deines Leibes neben dem After in Betracht. Du
stichst dir mit der Nadel in den Finger und hervorquillt rotes
Blut. In prächtigen Kanälen rauscht dieses Blut durch die
ganzen Wände deines Leibesschlauches. Wie ein innerer Lebens¬
bronnen speist es und tränkt es dich bis in jedes Fäserchen
hinein. Wenn dein Blut aus dir ausläuft, verschmachtest du
elendiglich. Wenn die Blutwelle nur einen Moment dein
Gehirn nicht durchspült, sinkst du in todesähnliche Ohnmacht.
Bei den Würmern taucht das innere Leibeskunststück dieser
Blutkanalisation zum erstenmal auf, alles was darunter steht,
weiß nichts davon.

Und noch weiter. Dein Gehirn, sage ich, erlahmt, wenn
das Blut es nicht speist. Auch das Gehirn selber erscheint zum
erstenmal beim Wurm. Wohl hast du bei viel tieferen Tieren
schon die deutlichen Anfänge eines Nervensystems. Die schöne
bunte Qualle, die, noch ohne After und noch ohne Blut, durch
den blauen Ozean dahinsegelt, sie trägt doch um den Rand
ihrer durchsichtigen Schwimmglocke schon einen Ring von Nerven¬
substanz -- einen "Geistesring" wenn du so willst, und an
diesem Ringe sitzen kleine Augen und Ohren, die ganz gewiß
schon ein ganzes Stück Außenwelt ähnlich erfassen wie deine.
Aber dein Menschenleib ist keine Quallenglocke. Dein Gehirn
sitzt als großer herrschender Klumpen von "Geistessubstanz" an
einer bestimmten Stelle oben über der Mundöffnung des Magen¬
schlauches fest beisammen. Und so gerade taucht es zuerst auch
beim Wurme auf. Auch der Wurm ist keine Glocke mehr wie
Polyp oder Qualle. Er ist selber bereits der längliche Schlauch
wie du. Gradlinig, Mund vorauf und After hintennach,
schlängelt er sich dahin. An dem wichtigen vorderen Ende,
gleichsam auf der Wacht über dem Futterschlund, konzentriert
sich bei ihm die Nervensubstanz zu einem ersten wirklichen
"Gehirn". Du als Mensch läufst ja heute aufrecht herum, an¬
statt wie der Wurm in der Längenrichtung zu krabbeln. Du

und Wurm in die engere Wahl geraten, alsbald noch mehrere
andere Organe deines Leibes neben dem After in Betracht. Du
ſtichſt dir mit der Nadel in den Finger und hervorquillt rotes
Blut. In prächtigen Kanälen rauſcht dieſes Blut durch die
ganzen Wände deines Leibesſchlauches. Wie ein innerer Lebens¬
bronnen ſpeiſt es und tränkt es dich bis in jedes Fäſerchen
hinein. Wenn dein Blut aus dir ausläuft, verſchmachteſt du
elendiglich. Wenn die Blutwelle nur einen Moment dein
Gehirn nicht durchſpült, ſinkſt du in todesähnliche Ohnmacht.
Bei den Würmern taucht das innere Leibeskunſtſtück dieſer
Blutkanaliſation zum erſtenmal auf, alles was darunter ſteht,
weiß nichts davon.

Und noch weiter. Dein Gehirn, ſage ich, erlahmt, wenn
das Blut es nicht ſpeiſt. Auch das Gehirn ſelber erſcheint zum
erſtenmal beim Wurm. Wohl haſt du bei viel tieferen Tieren
ſchon die deutlichen Anfänge eines Nervenſyſtems. Die ſchöne
bunte Qualle, die, noch ohne After und noch ohne Blut, durch
den blauen Ozean dahinſegelt, ſie trägt doch um den Rand
ihrer durchſichtigen Schwimmglocke ſchon einen Ring von Nerven¬
ſubſtanz — einen „Geiſtesring“ wenn du ſo willſt, und an
dieſem Ringe ſitzen kleine Augen und Ohren, die ganz gewiß
ſchon ein ganzes Stück Außenwelt ähnlich erfaſſen wie deine.
Aber dein Menſchenleib iſt keine Quallenglocke. Dein Gehirn
ſitzt als großer herrſchender Klumpen von „Geiſtesſubſtanz“ an
einer beſtimmten Stelle oben über der Mundöffnung des Magen¬
ſchlauches feſt beiſammen. Und ſo gerade taucht es zuerſt auch
beim Wurme auf. Auch der Wurm iſt keine Glocke mehr wie
Polyp oder Qualle. Er iſt ſelber bereits der längliche Schlauch
wie du. Gradlinig, Mund vorauf und After hintennach,
ſchlängelt er ſich dahin. An dem wichtigen vorderen Ende,
gleichſam auf der Wacht über dem Futterſchlund, konzentriert
ſich bei ihm die Nervenſubſtanz zu einem erſten wirklichen
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[72/0088] und Wurm in die engere Wahl geraten, alsbald noch mehrere andere Organe deines Leibes neben dem After in Betracht. Du ſtichſt dir mit der Nadel in den Finger und hervorquillt rotes Blut. In prächtigen Kanälen rauſcht dieſes Blut durch die ganzen Wände deines Leibesſchlauches. Wie ein innerer Lebens¬ bronnen ſpeiſt es und tränkt es dich bis in jedes Fäſerchen hinein. Wenn dein Blut aus dir ausläuft, verſchmachteſt du elendiglich. Wenn die Blutwelle nur einen Moment dein Gehirn nicht durchſpült, ſinkſt du in todesähnliche Ohnmacht. Bei den Würmern taucht das innere Leibeskunſtſtück dieſer Blutkanaliſation zum erſtenmal auf, alles was darunter ſteht, weiß nichts davon. Und noch weiter. Dein Gehirn, ſage ich, erlahmt, wenn das Blut es nicht ſpeiſt. Auch das Gehirn ſelber erſcheint zum erſtenmal beim Wurm. Wohl haſt du bei viel tieferen Tieren ſchon die deutlichen Anfänge eines Nervenſyſtems. Die ſchöne bunte Qualle, die, noch ohne After und noch ohne Blut, durch den blauen Ozean dahinſegelt, ſie trägt doch um den Rand ihrer durchſichtigen Schwimmglocke ſchon einen Ring von Nerven¬ ſubſtanz — einen „Geiſtesring“ wenn du ſo willſt, und an dieſem Ringe ſitzen kleine Augen und Ohren, die ganz gewiß ſchon ein ganzes Stück Außenwelt ähnlich erfaſſen wie deine. Aber dein Menſchenleib iſt keine Quallenglocke. Dein Gehirn ſitzt als großer herrſchender Klumpen von „Geiſtesſubſtanz“ an einer beſtimmten Stelle oben über der Mundöffnung des Magen¬ ſchlauches feſt beiſammen. Und ſo gerade taucht es zuerſt auch beim Wurme auf. Auch der Wurm iſt keine Glocke mehr wie Polyp oder Qualle. Er iſt ſelber bereits der längliche Schlauch wie du. Gradlinig, Mund vorauf und After hintennach, ſchlängelt er ſich dahin. An dem wichtigen vorderen Ende, gleichſam auf der Wacht über dem Futterſchlund, konzentriert ſich bei ihm die Nervenſubſtanz zu einem erſten wirklichen „Gehirn“. Du als Menſch läufſt ja heute aufrecht herum, an¬ ſtatt wie der Wurm in der Längenrichtung zu krabbeln. Du

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/88>, abgerufen am 02.05.2024.