Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Millionen Samentierchen erleben nichts als den kurzen, dummen,
sinnlosen Weg von ihrer warmen Wiege im Mannesorgan bis
zum Verschmachtungstode in einer ungeheuren, schauerlichen,
kalten, fremden Welt draußen, die sie bloß begrüßt, um sie zu
Tode zu quälen. Arme Bausteine zu Welten, aus denen doch
keine Welt wird!

Durch meinen Sinn zieht auch die famose Geschichte des
Multatuli: wie der Vater sein Kind unterweist, wie schön
alles in der Welt eingerichtet sei. Der Vogel legt seine Eier
und zur rechten Zeit, da es Würmlein als Speise gibt, kommen
die Jungen aus und ihr Gesang ist eitel Dank für so
treue Fürsorge. "Singen die Würmer mit, Papa?" fragt
das Kind.

Nein, sie werden gewiß nicht mitsingen, diese verschwendeten
Samentierchen, wenn sie mit ihrer Jahrmillionen-Fracht an
Vererbungen und Hoffnungen auf irgend einer Leinewand ver¬
dursten, ohne Mensch geworden zu sein.

[Abbildung]

Ich merke es wohl, du willst mich ins Äußerste hinein
beschwören. Bis ins Kernholz des Philosophischen. Ich aber
möchte dir mit einem einzigen Bilde bloß antworten. Vielleicht
daß es genügt.

Mache dich leicht im Geiste, leicht wie ein Vogel, ein
Ballon, -- noch viel leichter, ganz schwerelos. Und schwebe
empor.

Hoch wie ein Eukalyptusbaum von fünfhundert Fuß.
Die dreihundert Meter des Eiffelturmes. Die 8840 Meter
des Gaurisankar. Wie ein blaues Auge ist der runde See
hier unter dir eingesunken in dem graugrünen Kiefernteppich.

Millionen Samentierchen erleben nichts als den kurzen, dummen,
ſinnloſen Weg von ihrer warmen Wiege im Mannesorgan bis
zum Verſchmachtungstode in einer ungeheuren, ſchauerlichen,
kalten, fremden Welt draußen, die ſie bloß begrüßt, um ſie zu
Tode zu quälen. Arme Bauſteine zu Welten, aus denen doch
keine Welt wird!

Durch meinen Sinn zieht auch die famoſe Geſchichte des
Multatuli: wie der Vater ſein Kind unterweiſt, wie ſchön
alles in der Welt eingerichtet ſei. Der Vogel legt ſeine Eier
und zur rechten Zeit, da es Würmlein als Speiſe gibt, kommen
die Jungen aus und ihr Geſang iſt eitel Dank für ſo
treue Fürſorge. „Singen die Würmer mit, Papa?“ fragt
das Kind.

Nein, ſie werden gewiß nicht mitſingen, dieſe verſchwendeten
Samentierchen, wenn ſie mit ihrer Jahrmillionen-Fracht an
Vererbungen und Hoffnungen auf irgend einer Leinewand ver¬
durſten, ohne Menſch geworden zu ſein.

[Abbildung]

Ich merke es wohl, du willſt mich ins Äußerſte hinein
beſchwören. Bis ins Kernholz des Philoſophiſchen. Ich aber
möchte dir mit einem einzigen Bilde bloß antworten. Vielleicht
daß es genügt.

Mache dich leicht im Geiſte, leicht wie ein Vogel, ein
Ballon, — noch viel leichter, ganz ſchwerelos. Und ſchwebe
empor.

Hoch wie ein Eukalyptusbaum von fünfhundert Fuß.
Die dreihundert Meter des Eiffelturmes. Die 8840 Meter
des Gauriſankar. Wie ein blaues Auge iſt der runde See
hier unter dir eingeſunken in dem graugrünen Kiefernteppich.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0345" n="329"/>
Millionen Samentierchen erleben nichts als den kurzen, dummen,<lb/>
&#x017F;innlo&#x017F;en Weg von ihrer warmen Wiege im Mannesorgan bis<lb/>
zum Ver&#x017F;chmachtungstode in einer ungeheuren, &#x017F;chauerlichen,<lb/>
kalten, fremden Welt draußen, die &#x017F;ie bloß begrüßt, um &#x017F;ie zu<lb/>
Tode zu quälen. Arme Bau&#x017F;teine zu Welten, aus denen doch<lb/>
keine Welt wird!</p><lb/>
        <p>Durch meinen Sinn zieht auch die famo&#x017F;e Ge&#x017F;chichte des<lb/>
Multatuli: wie der Vater &#x017F;ein Kind unterwei&#x017F;t, wie &#x017F;chön<lb/>
alles in der Welt eingerichtet &#x017F;ei. Der Vogel legt &#x017F;eine Eier<lb/>
und zur rechten Zeit, da es Würmlein als Spei&#x017F;e gibt, kommen<lb/>
die Jungen aus und ihr Ge&#x017F;ang i&#x017F;t eitel Dank für &#x017F;o<lb/>
treue Für&#x017F;orge. &#x201E;Singen die Würmer mit, Papa?&#x201C; fragt<lb/>
das Kind.</p><lb/>
        <p>Nein, &#x017F;ie werden gewiß nicht mit&#x017F;ingen, die&#x017F;e ver&#x017F;chwendeten<lb/>
Samentierchen, wenn &#x017F;ie mit ihrer Jahrmillionen-Fracht an<lb/>
Vererbungen und Hoffnungen auf irgend einer Leinewand ver¬<lb/>
dur&#x017F;ten, ohne Men&#x017F;ch geworden zu &#x017F;ein.</p><lb/>
        <figure/>
        <p>Ich merke es wohl, du will&#x017F;t mich ins Äußer&#x017F;te hinein<lb/>
be&#x017F;chwören. Bis ins Kernholz des Philo&#x017F;ophi&#x017F;chen. Ich aber<lb/>
möchte dir mit einem einzigen Bilde bloß antworten. Vielleicht<lb/>
daß es genügt.</p><lb/>
        <p>Mache dich leicht im Gei&#x017F;te, leicht wie ein Vogel, ein<lb/>
Ballon, &#x2014; noch viel leichter, ganz &#x017F;chwerelos. Und &#x017F;chwebe<lb/>
empor.</p><lb/>
        <p>Hoch wie ein Eukalyptusbaum von fünfhundert Fuß.<lb/>
Die dreihundert Meter des Eiffelturmes. Die 8840 Meter<lb/>
des Gauri&#x017F;ankar. Wie ein blaues Auge i&#x017F;t der runde See<lb/>
hier unter dir einge&#x017F;unken in dem graugrünen Kiefernteppich.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329/0345] Millionen Samentierchen erleben nichts als den kurzen, dummen, ſinnloſen Weg von ihrer warmen Wiege im Mannesorgan bis zum Verſchmachtungstode in einer ungeheuren, ſchauerlichen, kalten, fremden Welt draußen, die ſie bloß begrüßt, um ſie zu Tode zu quälen. Arme Bauſteine zu Welten, aus denen doch keine Welt wird! Durch meinen Sinn zieht auch die famoſe Geſchichte des Multatuli: wie der Vater ſein Kind unterweiſt, wie ſchön alles in der Welt eingerichtet ſei. Der Vogel legt ſeine Eier und zur rechten Zeit, da es Würmlein als Speiſe gibt, kommen die Jungen aus und ihr Geſang iſt eitel Dank für ſo treue Fürſorge. „Singen die Würmer mit, Papa?“ fragt das Kind. Nein, ſie werden gewiß nicht mitſingen, dieſe verſchwendeten Samentierchen, wenn ſie mit ihrer Jahrmillionen-Fracht an Vererbungen und Hoffnungen auf irgend einer Leinewand ver¬ durſten, ohne Menſch geworden zu ſein. [Abbildung] Ich merke es wohl, du willſt mich ins Äußerſte hinein beſchwören. Bis ins Kernholz des Philoſophiſchen. Ich aber möchte dir mit einem einzigen Bilde bloß antworten. Vielleicht daß es genügt. Mache dich leicht im Geiſte, leicht wie ein Vogel, ein Ballon, — noch viel leichter, ganz ſchwerelos. Und ſchwebe empor. Hoch wie ein Eukalyptusbaum von fünfhundert Fuß. Die dreihundert Meter des Eiffelturmes. Die 8840 Meter des Gauriſankar. Wie ein blaues Auge iſt der runde See hier unter dir eingeſunken in dem graugrünen Kiefernteppich.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/345
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/345>, abgerufen am 13.05.2024.