Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Es fehlt ja die wahre physische Verschmelzung der Ur¬
wesen. In dieser muß ebenso wie in jener Selbstteilung ein
Todesmoment liegen. Gewiß ist es höchst merkwürdig, wie
der Augenblick der äußersten Hingabe und Erlösung auch in
unserm menschlichen Geschlechtsakt für Mann wie Weib etwas
todesartiges besitzt: einen Moment des Zerfließens, der Auf¬
hebung der eigenen Individualität. Aber die Psychologie
dieser höchsten Sekunde ist wohl kaum bisher klar durchdacht
worden. Unser eigenes Empfinden steckt da so im Mysterium,
daß wir mit Analogie nicht viel machen können. Ist dieser
Todesmoment des Doppel-Individuums bei jenen Urwesen im
Moment ihres Zusammenfließens zu einer einzigen neuen
Individualität eine Lust- oder eine Unlust-Empfindung? Man
möchte die Gegenfrage stellen: ist der Tod beim Menschen
eine Lust- oder eine Unlust-Empfindung? Womit wir wieder
an der Mauer sind. Hier hören nicht die Analogien auf,
sondern unsere Kenntnisse über uns selbst.

Es ist ja nicht auszusagen, wie dumm wir klugen
Menschen in unserer eigenen Haut stecken. Wir wollen das
Geheimnis der Bazillus-Empfindungen lösen durch Analogie
mit unsern eigenen Empfindungen -- und merken allerorten,
wie wir selber uns selber ein rabenschwarzer Urwald sind, in
dem der Knabe Simplicius verloren an einer Einsiedler¬
klause sitzt.

Ja wohl: gewußt wird die Sache ganz sicher innerhalb
unserer Leiber, -- nur nicht von "uns".

Die einzig wahre Analogie zu jener Bazillus-Liebe bildet
offenbar das Empfindungsleben unserer eigenen Samenzellen
und Eizellen. Da wird alles noch nach der Ur-Schablone
famos selber erlebt. Samenzelle und Eizelle verschmelzen genau
so miteinander, und genau so spaltet die befruchtete Eizelle sich
abermals in zwei Zellen auseinander. Was dabei an Lust und
Schmerz zu empfinden ist, werden die Kleinen da unten schon
genugsam erfahren. Aber wir großen Menschen-Individuen

Es fehlt ja die wahre phyſiſche Verſchmelzung der Ur¬
weſen. In dieſer muß ebenſo wie in jener Selbſtteilung ein
Todesmoment liegen. Gewiß iſt es höchſt merkwürdig, wie
der Augenblick der äußerſten Hingabe und Erlöſung auch in
unſerm menſchlichen Geſchlechtsakt für Mann wie Weib etwas
todesartiges beſitzt: einen Moment des Zerfließens, der Auf¬
hebung der eigenen Individualität. Aber die Pſychologie
dieſer höchſten Sekunde iſt wohl kaum bisher klar durchdacht
worden. Unſer eigenes Empfinden ſteckt da ſo im Myſterium,
daß wir mit Analogie nicht viel machen können. Iſt dieſer
Todesmoment des Doppel-Individuums bei jenen Urweſen im
Moment ihres Zuſammenfließens zu einer einzigen neuen
Individualität eine Luſt- oder eine Unluſt-Empfindung? Man
möchte die Gegenfrage ſtellen: iſt der Tod beim Menſchen
eine Luſt- oder eine Unluſt-Empfindung? Womit wir wieder
an der Mauer ſind. Hier hören nicht die Analogien auf,
ſondern unſere Kenntniſſe über uns ſelbſt.

Es iſt ja nicht auszuſagen, wie dumm wir klugen
Menſchen in unſerer eigenen Haut ſtecken. Wir wollen das
Geheimnis der Bazillus-Empfindungen löſen durch Analogie
mit unſern eigenen Empfindungen — und merken allerorten,
wie wir ſelber uns ſelber ein rabenſchwarzer Urwald ſind, in
dem der Knabe Simplicius verloren an einer Einſiedler¬
klauſe ſitzt.

Ja wohl: gewußt wird die Sache ganz ſicher innerhalb
unſerer Leiber, — nur nicht von „uns“.

Die einzig wahre Analogie zu jener Bazillus-Liebe bildet
offenbar das Empfindungsleben unſerer eigenen Samenzellen
und Eizellen. Da wird alles noch nach der Ur-Schablone
famos ſelber erlebt. Samenzelle und Eizelle verſchmelzen genau
ſo miteinander, und genau ſo ſpaltet die befruchtete Eizelle ſich
abermals in zwei Zellen auseinander. Was dabei an Luſt und
Schmerz zu empfinden iſt, werden die Kleinen da unten ſchon
genugſam erfahren. Aber wir großen Menſchen-Individuen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0319" n="303"/>
        <p>Es fehlt ja die wahre phy&#x017F;i&#x017F;che Ver&#x017F;chmelzung der Ur¬<lb/>
we&#x017F;en. In die&#x017F;er muß eben&#x017F;o wie in jener Selb&#x017F;tteilung ein<lb/>
Todesmoment liegen. Gewiß i&#x017F;t es höch&#x017F;t merkwürdig, wie<lb/>
der Augenblick der äußer&#x017F;ten Hingabe und Erlö&#x017F;ung auch in<lb/>
un&#x017F;erm men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;chlechtsakt für Mann wie Weib etwas<lb/>
todesartiges be&#x017F;itzt: einen Moment des Zerfließens, der Auf¬<lb/>
hebung der eigenen Individualität. Aber die P&#x017F;ychologie<lb/>
die&#x017F;er höch&#x017F;ten Sekunde i&#x017F;t wohl kaum bisher klar durchdacht<lb/>
worden. Un&#x017F;er eigenes Empfinden &#x017F;teckt da &#x017F;o im My&#x017F;terium,<lb/>
daß wir mit Analogie nicht viel machen können. I&#x017F;t die&#x017F;er<lb/>
Todesmoment des Doppel-Individuums bei jenen Urwe&#x017F;en im<lb/>
Moment ihres Zu&#x017F;ammenfließens zu einer einzigen neuen<lb/>
Individualität eine Lu&#x017F;t- oder eine Unlu&#x017F;t-Empfindung? Man<lb/>
möchte die Gegenfrage &#x017F;tellen: i&#x017F;t der Tod beim Men&#x017F;chen<lb/>
eine Lu&#x017F;t- oder eine Unlu&#x017F;t-Empfindung? Womit wir wieder<lb/>
an der Mauer &#x017F;ind. Hier hören nicht die Analogien auf,<lb/>
&#x017F;ondern un&#x017F;ere Kenntni&#x017F;&#x017F;e über uns &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t ja nicht auszu&#x017F;agen, wie dumm wir klugen<lb/>
Men&#x017F;chen in un&#x017F;erer eigenen Haut &#x017F;tecken. Wir wollen das<lb/>
Geheimnis der Bazillus-Empfindungen lö&#x017F;en durch Analogie<lb/>
mit un&#x017F;ern eigenen Empfindungen &#x2014; und merken allerorten,<lb/>
wie wir &#x017F;elber uns &#x017F;elber ein raben&#x017F;chwarzer Urwald &#x017F;ind, in<lb/>
dem der Knabe Simplicius verloren an einer Ein&#x017F;iedler¬<lb/>
klau&#x017F;e &#x017F;itzt.</p><lb/>
        <p>Ja wohl: gewußt wird die Sache ganz &#x017F;icher innerhalb<lb/>
un&#x017F;erer Leiber, &#x2014; nur nicht von &#x201E;uns&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Die einzig wahre Analogie zu jener Bazillus-Liebe bildet<lb/>
offenbar das Empfindungsleben un&#x017F;erer eigenen Samenzellen<lb/>
und Eizellen. Da wird alles noch nach der Ur-Schablone<lb/>
famos &#x017F;elber erlebt. Samenzelle und Eizelle ver&#x017F;chmelzen genau<lb/>
&#x017F;o miteinander, und genau &#x017F;o &#x017F;paltet die befruchtete Eizelle &#x017F;ich<lb/>
abermals in zwei Zellen auseinander. Was dabei an Lu&#x017F;t und<lb/>
Schmerz zu empfinden i&#x017F;t, werden die Kleinen da unten &#x017F;chon<lb/>
genug&#x017F;am erfahren. Aber wir großen Men&#x017F;chen-Individuen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0319] Es fehlt ja die wahre phyſiſche Verſchmelzung der Ur¬ weſen. In dieſer muß ebenſo wie in jener Selbſtteilung ein Todesmoment liegen. Gewiß iſt es höchſt merkwürdig, wie der Augenblick der äußerſten Hingabe und Erlöſung auch in unſerm menſchlichen Geſchlechtsakt für Mann wie Weib etwas todesartiges beſitzt: einen Moment des Zerfließens, der Auf¬ hebung der eigenen Individualität. Aber die Pſychologie dieſer höchſten Sekunde iſt wohl kaum bisher klar durchdacht worden. Unſer eigenes Empfinden ſteckt da ſo im Myſterium, daß wir mit Analogie nicht viel machen können. Iſt dieſer Todesmoment des Doppel-Individuums bei jenen Urweſen im Moment ihres Zuſammenfließens zu einer einzigen neuen Individualität eine Luſt- oder eine Unluſt-Empfindung? Man möchte die Gegenfrage ſtellen: iſt der Tod beim Menſchen eine Luſt- oder eine Unluſt-Empfindung? Womit wir wieder an der Mauer ſind. Hier hören nicht die Analogien auf, ſondern unſere Kenntniſſe über uns ſelbſt. Es iſt ja nicht auszuſagen, wie dumm wir klugen Menſchen in unſerer eigenen Haut ſtecken. Wir wollen das Geheimnis der Bazillus-Empfindungen löſen durch Analogie mit unſern eigenen Empfindungen — und merken allerorten, wie wir ſelber uns ſelber ein rabenſchwarzer Urwald ſind, in dem der Knabe Simplicius verloren an einer Einſiedler¬ klauſe ſitzt. Ja wohl: gewußt wird die Sache ganz ſicher innerhalb unſerer Leiber, — nur nicht von „uns“. Die einzig wahre Analogie zu jener Bazillus-Liebe bildet offenbar das Empfindungsleben unſerer eigenen Samenzellen und Eizellen. Da wird alles noch nach der Ur-Schablone famos ſelber erlebt. Samenzelle und Eizelle verſchmelzen genau ſo miteinander, und genau ſo ſpaltet die befruchtete Eizelle ſich abermals in zwei Zellen auseinander. Was dabei an Luſt und Schmerz zu empfinden iſt, werden die Kleinen da unten ſchon genugſam erfahren. Aber wir großen Menſchen-Individuen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/319
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/319>, abgerufen am 12.05.2024.