Kind dann endlich durch den schmalsten Spalt vor. Die Mutter liegt dabei wie eine Sterbende. Ihr Verzweiflungsschrei ist vielleicht der grellste Laut, den menschliche Stimme überhaupt hervorbringen kann. Was für ein liebliches Friedensbild ist dagegen das bunte Ei, das der Vogel in ein warmes Nestlein legt. Und das der kleine neue Geselle wie ein Zuckerwerk von innen anknabbert, bis es bricht.
Den ganzen Kontrast aber fühlst du in einem jener köst¬ lichen Citronenhaine der Riviera. An den grünen Zweigen hängen süße weiße Blüten mit berauschendem Duft und zu¬ gleich, nach dem Brauch dieser Wunderkinder, goldene Früchte. In Blüte wie Frucht feiert der Baum den Sieg seiner Schön¬ heit. Und dieser weiße Blütenstern ist doch das Geschlechts¬ glied, dieser Goldball doch die reifende Frucht. Du starrst aus dem stillen Thal, durch das sich Citronengarten um Citronengarten landeinwärts zieht, hinaus auf die hohe, blaue See, die wie ein sanftes Auge im Ausschnitt der Thalpforte schwimmt. Und dich ergreift die volle verzweifelte Unbegreiflich¬ keit deines Menschentums.
Warum hat Gott seinen Menschen nicht geschaffen wie diese Citronenbäume hier? Warum ist die Wange des Weibes nicht eine süße Blüte, auf der ein Kuß Leben zeugt? Und warum reift der König der Erde nicht auch in einem goldenen Hesperidenapfel? Credo, quia absurdum.
Geh in die Wüste, heiliger Antonius.
[Abbildung]
Kind dann endlich durch den ſchmalſten Spalt vor. Die Mutter liegt dabei wie eine Sterbende. Ihr Verzweiflungsſchrei iſt vielleicht der grellſte Laut, den menſchliche Stimme überhaupt hervorbringen kann. Was für ein liebliches Friedensbild iſt dagegen das bunte Ei, das der Vogel in ein warmes Neſtlein legt. Und das der kleine neue Geſelle wie ein Zuckerwerk von innen anknabbert, bis es bricht.
Den ganzen Kontraſt aber fühlſt du in einem jener köſt¬ lichen Citronenhaine der Riviera. An den grünen Zweigen hängen ſüße weiße Blüten mit berauſchendem Duft und zu¬ gleich, nach dem Brauch dieſer Wunderkinder, goldene Früchte. In Blüte wie Frucht feiert der Baum den Sieg ſeiner Schön¬ heit. Und dieſer weiße Blütenſtern iſt doch das Geſchlechts¬ glied, dieſer Goldball doch die reifende Frucht. Du ſtarrſt aus dem ſtillen Thal, durch das ſich Citronengarten um Citronengarten landeinwärts zieht, hinaus auf die hohe, blaue See, die wie ein ſanftes Auge im Ausſchnitt der Thalpforte ſchwimmt. Und dich ergreift die volle verzweifelte Unbegreiflich¬ keit deines Menſchentums.
Warum hat Gott ſeinen Menſchen nicht geſchaffen wie dieſe Citronenbäume hier? Warum iſt die Wange des Weibes nicht eine ſüße Blüte, auf der ein Kuß Leben zeugt? Und warum reift der König der Erde nicht auch in einem goldenen Heſperidenapfel? Credo‚ quia absurdum.
Geh in die Wüſte, heiliger Antonius.
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Kind dann endlich durch den ſchmalſten Spalt vor. Die Mutter
liegt dabei wie eine Sterbende. Ihr Verzweiflungsſchrei iſt
vielleicht der grellſte Laut, den menſchliche Stimme überhaupt
hervorbringen kann. Was für ein liebliches Friedensbild iſt
dagegen das bunte Ei, das der Vogel in ein warmes Neſtlein
legt. Und das der kleine neue Geſelle wie ein Zuckerwerk von
innen anknabbert, bis es bricht.
Den ganzen Kontraſt aber fühlſt du in einem jener köſt¬
lichen Citronenhaine der Riviera. An den grünen Zweigen
hängen ſüße weiße Blüten mit berauſchendem Duft und zu¬
gleich, nach dem Brauch dieſer Wunderkinder, goldene Früchte.
In Blüte wie Frucht feiert der Baum den Sieg ſeiner Schön¬
heit. Und dieſer weiße Blütenſtern iſt doch das Geſchlechts¬
glied, dieſer Goldball doch die reifende Frucht. Du ſtarrſt
aus dem ſtillen Thal, durch das ſich Citronengarten um
Citronengarten landeinwärts zieht, hinaus auf die hohe, blaue
See, die wie ein ſanftes Auge im Ausſchnitt der Thalpforte
ſchwimmt. Und dich ergreift die volle verzweifelte Unbegreiflich¬
keit deines Menſchentums.
Warum hat Gott ſeinen Menſchen nicht geſchaffen wie
dieſe Citronenbäume hier? Warum iſt die Wange des Weibes
nicht eine ſüße Blüte, auf der ein Kuß Leben zeugt? Und
warum reift der König der Erde nicht auch in einem goldenen
Heſperidenapfel? Credo‚ quia absurdum.
Geh in die Wüſte, heiliger Antonius.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/202>, abgerufen am 22.11.2024.
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