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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Du kannst schon etwas derart vermuten, wenn du dich an
eine uns allen geläufige Erscheinung unseres menschlichen Liebes¬
lebens erinnerst.

Bei uns Kulturmenschen sind die verschiedenen Lieben viel¬
fach in eine Art Zwist miteinander geraten. Besonders die
Distanceliebe ist es, die immer wieder den Versuch gemacht hat,
sich als die einzig echte, heilige, menschenwürdige Liebe aufzu¬
spielen und die Mischliebe für eine niedrige, häßliche, ver¬
bergenswerte Liebesabart oder -unart, gleichsam für das
Enfant terrible der Liebe, zu erklären. Alle jenen lieben
Wörtlein, die der bewußte sogenannte Geist im Menschen gegen
seinen eigenen Leib erfunden hat, sind auch hier zur Anwendung
gebracht worden. Tierisch, fleischlich, sinnlich waren noch die
harmloseren. In zweiter noch verbesserter Instanz kamen dann
unsittlich, ekelhaft, menschenunwürdig, satanisch. Obwohl man
zugab, daß diese schauderöse Mischliebe doch zum Zweck überhaupt
der Fortsetzung des sonst gottlob so veredelten und vergeistigten
Menschenvolkes nicht gänzlich aufgehoben werden könne, so haben
sich doch Jahrtausende der Sittengeschichte eine immer größere
Mühe gegeben, die Mischliebe wenigstens in der Achtung so
weit herunterzuarbeiten gegenüber der Distanceliebe, wie nur
möglich. Auf gewissen Höhepunkten dieses ungemein merk¬
würdigen kulturgeschichtlichen Zwistes der "zwei Seelen, ach",
in unserem Liebes-Individuum ist ja gar versucht worden, auch
noch die Dauerliebe von jedem Mischrest zu entkleiden und zu
erlösen. Wie der Heilige nicht mehr in den Armen eines
Weibes gedacht werden konnte, so sollte er schließlich auch nicht
mehr aus einem Mischakt stammen. Du weißt, wie Buddha
sowohl wie Christus von der Legende aus mystischen Distance¬
akten ohne "Befleckung" hergeleitet wurden.

Auch in all diesen Dingen stecken ja nun große und ver¬
wickelte Wallfahrten des suchenden Menschengeistes, dieses neu
geborenen Bewußtseinskindes, das auf seiner Suche nach
Fortentwickelung durch höhere Ideale tausend Wege probiert

Du kannſt ſchon etwas derart vermuten, wenn du dich an
eine uns allen geläufige Erſcheinung unſeres menſchlichen Liebes¬
lebens erinnerſt.

Bei uns Kulturmenſchen ſind die verſchiedenen Lieben viel¬
fach in eine Art Zwiſt miteinander geraten. Beſonders die
Diſtanceliebe iſt es, die immer wieder den Verſuch gemacht hat,
ſich als die einzig echte, heilige, menſchenwürdige Liebe aufzu¬
ſpielen und die Miſchliebe für eine niedrige, häßliche, ver¬
bergenswerte Liebesabart oder -unart, gleichſam für das
Enfant terrible der Liebe, zu erklären. Alle jenen lieben
Wörtlein, die der bewußte ſogenannte Geiſt im Menſchen gegen
ſeinen eigenen Leib erfunden hat, ſind auch hier zur Anwendung
gebracht worden. Tieriſch, fleiſchlich, ſinnlich waren noch die
harmloſeren. In zweiter noch verbeſſerter Inſtanz kamen dann
unſittlich, ekelhaft, menſchenunwürdig, ſataniſch. Obwohl man
zugab, daß dieſe ſchauderöſe Miſchliebe doch zum Zweck überhaupt
der Fortſetzung des ſonſt gottlob ſo veredelten und vergeiſtigten
Menſchenvolkes nicht gänzlich aufgehoben werden könne, ſo haben
ſich doch Jahrtauſende der Sittengeſchichte eine immer größere
Mühe gegeben, die Miſchliebe wenigſtens in der Achtung ſo
weit herunterzuarbeiten gegenüber der Diſtanceliebe, wie nur
möglich. Auf gewiſſen Höhepunkten dieſes ungemein merk¬
würdigen kulturgeſchichtlichen Zwiſtes der „zwei Seelen, ach“,
in unſerem Liebes-Individuum iſt ja gar verſucht worden, auch
noch die Dauerliebe von jedem Miſchreſt zu entkleiden und zu
erlöſen. Wie der Heilige nicht mehr in den Armen eines
Weibes gedacht werden konnte, ſo ſollte er ſchließlich auch nicht
mehr aus einem Miſchakt ſtammen. Du weißt, wie Buddha
ſowohl wie Chriſtus von der Legende aus myſtiſchen Diſtance¬
akten ohne „Befleckung“ hergeleitet wurden.

Auch in all dieſen Dingen ſtecken ja nun große und ver¬
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[156/0172] Du kannſt ſchon etwas derart vermuten, wenn du dich an eine uns allen geläufige Erſcheinung unſeres menſchlichen Liebes¬ lebens erinnerſt. Bei uns Kulturmenſchen ſind die verſchiedenen Lieben viel¬ fach in eine Art Zwiſt miteinander geraten. Beſonders die Diſtanceliebe iſt es, die immer wieder den Verſuch gemacht hat, ſich als die einzig echte, heilige, menſchenwürdige Liebe aufzu¬ ſpielen und die Miſchliebe für eine niedrige, häßliche, ver¬ bergenswerte Liebesabart oder -unart, gleichſam für das Enfant terrible der Liebe, zu erklären. Alle jenen lieben Wörtlein, die der bewußte ſogenannte Geiſt im Menſchen gegen ſeinen eigenen Leib erfunden hat, ſind auch hier zur Anwendung gebracht worden. Tieriſch, fleiſchlich, ſinnlich waren noch die harmloſeren. In zweiter noch verbeſſerter Inſtanz kamen dann unſittlich, ekelhaft, menſchenunwürdig, ſataniſch. Obwohl man zugab, daß dieſe ſchauderöſe Miſchliebe doch zum Zweck überhaupt der Fortſetzung des ſonſt gottlob ſo veredelten und vergeiſtigten Menſchenvolkes nicht gänzlich aufgehoben werden könne, ſo haben ſich doch Jahrtauſende der Sittengeſchichte eine immer größere Mühe gegeben, die Miſchliebe wenigſtens in der Achtung ſo weit herunterzuarbeiten gegenüber der Diſtanceliebe, wie nur möglich. Auf gewiſſen Höhepunkten dieſes ungemein merk¬ würdigen kulturgeſchichtlichen Zwiſtes der „zwei Seelen, ach“, in unſerem Liebes-Individuum iſt ja gar verſucht worden, auch noch die Dauerliebe von jedem Miſchreſt zu entkleiden und zu erlöſen. Wie der Heilige nicht mehr in den Armen eines Weibes gedacht werden konnte, ſo ſollte er ſchließlich auch nicht mehr aus einem Miſchakt ſtammen. Du weißt, wie Buddha ſowohl wie Chriſtus von der Legende aus myſtiſchen Diſtance¬ akten ohne „Befleckung“ hergeleitet wurden. Auch in all dieſen Dingen ſtecken ja nun große und ver¬ wickelte Wallfahrten des ſuchenden Menſchengeiſtes, dieſes neu geborenen Bewußtſeinskindes, das auf ſeiner Suche nach Fortentwickelung durch höhere Ideale tauſend Wege probiert

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/172>, abgerufen am 22.11.2024.