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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Da sitzen die Schnabeltiere, kurioseste Gesellen im heutigen
Australien. Sie markieren noch mit unverwüstlicher Altentreue
die Grenze vom Säugetier zur Eidechse. Noch heute legen sie
Eier wie diese, wenn auch schon mit einigen fortschrittlichen
Zuthaten hinsichtlich der Ernährung. Noch heute ist ihr Blut
ganz auffällig schwach geheizt, daß man sich an die Scheide
zum "Wechselwarmen" zurückversetzt glaubt. Das hast du alles
gründlich überwunden, und ein Schnabeltier bist du also un¬
bedingt nicht mehr.

Ein Stockwerk höher hausen die sogenannten Beuteltiere,
die zwar keine Eier mehr legen, aber ihre ganz unreif geborenen
Jungen in einem warmen Brutbeutel am Bauche mit sich her¬
umschleppen. Dein Menschenbauch hat keine Tasche der Art
mehr. Das neue Menschlein wächst sich bis zur reifen Geburt
im Innern aus. Also Beuteltier bist du auch nicht: kein
hüpfendes Känguruh, kein schwerfälliger Beutelbär, kein bissiges
Opossum, das in Nordamerika nachts dem Farmer die Hühner
murkst und aussaugt und, wenn du es fassen willst, hoch im
Baum an seinem lustigen Wickelschwanze vom Ast baumelt.

Jetzt kommt aber die oberste Schicht. Die eigentlich ganz
echten Säugetiere im gangbaren Sinne.

Gieb mir deine Hand.

Diese schöne Hand. Ein Kunstwerk ist sie, sie, in der so
viel Menschenkunst umschlossen liegt. Aber auch eine weise
Hand. Der Mystiker suchte in ihren Linien das Schicksal zu
lesen. Der Freigeist hat das verlacht. Es liegt aber mehr
Schicksal wirklich in dieser Hand, als in tausend sibyllinischen
Büchern unserer Klügsten. Schon einmal hat sie uns geleitet.
Jetzt, zu den letzten Staffeln, brauchst du nichts mehr als sie.

Laß sie im Geiste alle an dir vorbeiziehen, die Säugetier-
Geschlechter oberhalb des Känguruhs. Wie eine große dumpfe
trampelnde rasselnde brüllende Vision. Und recke bloß deine
schöne weiße Hand hier dagegen aus -- an diesem Felsen wird
der ganze Spuk sich brechen, bis der Rechte vortritt, den du brauchst.

Da ſitzen die Schnabeltiere, kurioſeſte Geſellen im heutigen
Auſtralien. Sie markieren noch mit unverwüſtlicher Altentreue
die Grenze vom Säugetier zur Eidechſe. Noch heute legen ſie
Eier wie dieſe, wenn auch ſchon mit einigen fortſchrittlichen
Zuthaten hinſichtlich der Ernährung. Noch heute iſt ihr Blut
ganz auffällig ſchwach geheizt, daß man ſich an die Scheide
zum „Wechſelwarmen“ zurückverſetzt glaubt. Das haſt du alles
gründlich überwunden, und ein Schnabeltier biſt du alſo un¬
bedingt nicht mehr.

Ein Stockwerk höher hauſen die ſogenannten Beuteltiere,
die zwar keine Eier mehr legen, aber ihre ganz unreif geborenen
Jungen in einem warmen Brutbeutel am Bauche mit ſich her¬
umſchleppen. Dein Menſchenbauch hat keine Taſche der Art
mehr. Das neue Menſchlein wächſt ſich bis zur reifen Geburt
im Innern aus. Alſo Beuteltier biſt du auch nicht: kein
hüpfendes Känguruh, kein ſchwerfälliger Beutelbär, kein biſſiges
Opoſſum, das in Nordamerika nachts dem Farmer die Hühner
murkſt und ausſaugt und, wenn du es faſſen willſt, hoch im
Baum an ſeinem luſtigen Wickelſchwanze vom Aſt baumelt.

Jetzt kommt aber die oberſte Schicht. Die eigentlich ganz
echten Säugetiere im gangbaren Sinne.

Gieb mir deine Hand.

Dieſe ſchöne Hand. Ein Kunſtwerk iſt ſie, ſie, in der ſo
viel Menſchenkunſt umſchloſſen liegt. Aber auch eine weiſe
Hand. Der Myſtiker ſuchte in ihren Linien das Schickſal zu
leſen. Der Freigeiſt hat das verlacht. Es liegt aber mehr
Schickſal wirklich in dieſer Hand, als in tauſend ſibylliniſchen
Büchern unſerer Klügſten. Schon einmal hat ſie uns geleitet.
Jetzt, zu den letzten Staffeln, brauchſt du nichts mehr als ſie.

Laß ſie im Geiſte alle an dir vorbeiziehen, die Säugetier-
Geſchlechter oberhalb des Känguruhs. Wie eine große dumpfe
trampelnde raſſelnde brüllende Viſion. Und recke bloß deine
ſchöne weiße Hand hier dagegen aus — an dieſem Felſen wird
der ganze Spuk ſich brechen, bis der Rechte vortritt, den du brauchſt.

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[100/0116] Da ſitzen die Schnabeltiere, kurioſeſte Geſellen im heutigen Auſtralien. Sie markieren noch mit unverwüſtlicher Altentreue die Grenze vom Säugetier zur Eidechſe. Noch heute legen ſie Eier wie dieſe, wenn auch ſchon mit einigen fortſchrittlichen Zuthaten hinſichtlich der Ernährung. Noch heute iſt ihr Blut ganz auffällig ſchwach geheizt, daß man ſich an die Scheide zum „Wechſelwarmen“ zurückverſetzt glaubt. Das haſt du alles gründlich überwunden, und ein Schnabeltier biſt du alſo un¬ bedingt nicht mehr. Ein Stockwerk höher hauſen die ſogenannten Beuteltiere, die zwar keine Eier mehr legen, aber ihre ganz unreif geborenen Jungen in einem warmen Brutbeutel am Bauche mit ſich her¬ umſchleppen. Dein Menſchenbauch hat keine Taſche der Art mehr. Das neue Menſchlein wächſt ſich bis zur reifen Geburt im Innern aus. Alſo Beuteltier biſt du auch nicht: kein hüpfendes Känguruh, kein ſchwerfälliger Beutelbär, kein biſſiges Opoſſum, das in Nordamerika nachts dem Farmer die Hühner murkſt und ausſaugt und, wenn du es faſſen willſt, hoch im Baum an ſeinem luſtigen Wickelſchwanze vom Aſt baumelt. Jetzt kommt aber die oberſte Schicht. Die eigentlich ganz echten Säugetiere im gangbaren Sinne. Gieb mir deine Hand. Dieſe ſchöne Hand. Ein Kunſtwerk iſt ſie, ſie, in der ſo viel Menſchenkunſt umſchloſſen liegt. Aber auch eine weiſe Hand. Der Myſtiker ſuchte in ihren Linien das Schickſal zu leſen. Der Freigeiſt hat das verlacht. Es liegt aber mehr Schickſal wirklich in dieſer Hand, als in tauſend ſibylliniſchen Büchern unſerer Klügſten. Schon einmal hat ſie uns geleitet. Jetzt, zu den letzten Staffeln, brauchſt du nichts mehr als ſie. Laß ſie im Geiſte alle an dir vorbeiziehen, die Säugetier- Geſchlechter oberhalb des Känguruhs. Wie eine große dumpfe trampelnde raſſelnde brüllende Viſion. Und recke bloß deine ſchöne weiße Hand hier dagegen aus — an dieſem Felſen wird der ganze Spuk ſich brechen, bis der Rechte vortritt, den du brauchſt.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/116>, abgerufen am 22.11.2024.