Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

[Abbildung]

Da liegt sie in der Sonne, die schlanke, lang geschwänzte,
grüne Fee des Grasrains, reglos, als habe die Sonnenglut sie
versteint -- die Eidechse. In uralten Tagen hat sie schon
einmal so an irgend einem Tümpelrand gelegen -- als neuer
Schritt zu dir über das Amphibium hinaus. Sie ist nicht
mehr beidlebig, sondern nur noch einlebig. Aus dem Ei schon
kriecht sie hervor als Lufttier, das keine kiemenatmende Kaul¬
quappe mehr kennt. Sie schwänzelt als grotesker Waran durch
die brennende wasserlose Wüste, wohin kein Molch oder Frosch
sich noch getraut hätte, ohne zur dürren Mumie zu schrumpfen.
Sie wächst zum grimmen Ichthyosaurus aus, der, obwohl
immerzu auch er nur noch lungenatmend, der wildeste Räuber
wieder des Ozeans trotz allen Fischen wird. Sie hüpft auf¬
recht auf den Hinterbeinen als Iguanodon dahin, das erste
echte "Bein- und Armtier", das deinen sonnenaufgewandten
Menschengang schon vorwegnimmt. Sie flattert endlich als
Pterodaktylus durch die Lüfte, indem sie die alte Haut, die
einst als Ruderflosse vorsprang, nun gar als Segel vom Finger
zum Schenkel spannt.

Und doch bist du auch diese Eidechse nicht mehr. Da
liegst du -- und da sie. Ihr beide im Sonnenbad, beide selig
und wohlig ob dieser Sonne. Und doch so verschieden. Dein
Leib freut sich der Sonne, ihre Wärme umschmeichelt dich wie


[Abbildung]

Da liegt ſie in der Sonne, die ſchlanke, lang geſchwänzte,
grüne Fee des Grasrains, reglos, als habe die Sonnenglut ſie
verſteint — die Eidechſe. In uralten Tagen hat ſie ſchon
einmal ſo an irgend einem Tümpelrand gelegen — als neuer
Schritt zu dir über das Amphibium hinaus. Sie iſt nicht
mehr beidlebig, ſondern nur noch einlebig. Aus dem Ei ſchon
kriecht ſie hervor als Lufttier, das keine kiemenatmende Kaul¬
quappe mehr kennt. Sie ſchwänzelt als grotesker Waran durch
die brennende waſſerloſe Wüſte, wohin kein Molch oder Froſch
ſich noch getraut hätte, ohne zur dürren Mumie zu ſchrumpfen.
Sie wächſt zum grimmen Ichthyoſaurus aus, der, obwohl
immerzu auch er nur noch lungenatmend, der wildeſte Räuber
wieder des Ozeans trotz allen Fiſchen wird. Sie hüpft auf¬
recht auf den Hinterbeinen als Iguanodon dahin, das erſte
echte „Bein- und Armtier“, das deinen ſonnenaufgewandten
Menſchengang ſchon vorwegnimmt. Sie flattert endlich als
Pterodaktylus durch die Lüfte, indem ſie die alte Haut, die
einſt als Ruderfloſſe vorſprang, nun gar als Segel vom Finger
zum Schenkel ſpannt.

Und doch biſt du auch dieſe Eidechſe nicht mehr. Da
liegſt du — und da ſie. Ihr beide im Sonnenbad, beide ſelig
und wohlig ob dieſer Sonne. Und doch ſo verſchieden. Dein
Leib freut ſich der Sonne, ihre Wärme umſchmeichelt dich wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0108" n="92"/>
        <figure/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>a liegt &#x017F;ie in der Sonne, die &#x017F;chlanke, lang ge&#x017F;chwänzte,<lb/>
grüne Fee des Grasrains, reglos, als habe die Sonnenglut &#x017F;ie<lb/>
ver&#x017F;teint &#x2014; die Eidech&#x017F;e. In uralten Tagen hat &#x017F;ie &#x017F;chon<lb/>
einmal &#x017F;o an irgend einem Tümpelrand gelegen &#x2014; als neuer<lb/>
Schritt zu dir über das Amphibium hinaus. Sie i&#x017F;t nicht<lb/>
mehr beidlebig, &#x017F;ondern nur noch einlebig. Aus dem Ei &#x017F;chon<lb/>
kriecht &#x017F;ie hervor als Lufttier, das keine kiemenatmende Kaul¬<lb/>
quappe mehr kennt. Sie &#x017F;chwänzelt als grotesker Waran durch<lb/>
die brennende wa&#x017F;&#x017F;erlo&#x017F;e Wü&#x017F;te, wohin kein Molch oder Fro&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;ich noch getraut hätte, ohne zur dürren Mumie zu &#x017F;chrumpfen.<lb/>
Sie wäch&#x017F;t zum grimmen Ichthyo&#x017F;aurus aus, der, obwohl<lb/>
immerzu auch er nur noch lungenatmend, der wilde&#x017F;te Räuber<lb/>
wieder des Ozeans trotz allen Fi&#x017F;chen wird. Sie hüpft auf¬<lb/>
recht auf den Hinterbeinen als Iguanodon dahin, das er&#x017F;te<lb/>
echte &#x201E;Bein- und Armtier&#x201C;, das deinen &#x017F;onnenaufgewandten<lb/>
Men&#x017F;chengang &#x017F;chon vorwegnimmt. Sie flattert endlich als<lb/>
Pterodaktylus durch die Lüfte, indem &#x017F;ie die alte Haut, die<lb/>
ein&#x017F;t als Ruderflo&#x017F;&#x017F;e vor&#x017F;prang, nun gar als Segel vom Finger<lb/>
zum Schenkel &#x017F;pannt.</p><lb/>
        <p>Und doch bi&#x017F;t du auch die&#x017F;e Eidech&#x017F;e nicht mehr. Da<lb/>
lieg&#x017F;t du &#x2014; und da &#x017F;ie. Ihr beide im Sonnenbad, beide &#x017F;elig<lb/>
und wohlig ob die&#x017F;er Sonne. Und doch &#x017F;o ver&#x017F;chieden. Dein<lb/>
Leib freut &#x017F;ich der Sonne, ihre Wärme um&#x017F;chmeichelt dich wie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0108] [Abbildung] Da liegt ſie in der Sonne, die ſchlanke, lang geſchwänzte, grüne Fee des Grasrains, reglos, als habe die Sonnenglut ſie verſteint — die Eidechſe. In uralten Tagen hat ſie ſchon einmal ſo an irgend einem Tümpelrand gelegen — als neuer Schritt zu dir über das Amphibium hinaus. Sie iſt nicht mehr beidlebig, ſondern nur noch einlebig. Aus dem Ei ſchon kriecht ſie hervor als Lufttier, das keine kiemenatmende Kaul¬ quappe mehr kennt. Sie ſchwänzelt als grotesker Waran durch die brennende waſſerloſe Wüſte, wohin kein Molch oder Froſch ſich noch getraut hätte, ohne zur dürren Mumie zu ſchrumpfen. Sie wächſt zum grimmen Ichthyoſaurus aus, der, obwohl immerzu auch er nur noch lungenatmend, der wildeſte Räuber wieder des Ozeans trotz allen Fiſchen wird. Sie hüpft auf¬ recht auf den Hinterbeinen als Iguanodon dahin, das erſte echte „Bein- und Armtier“, das deinen ſonnenaufgewandten Menſchengang ſchon vorwegnimmt. Sie flattert endlich als Pterodaktylus durch die Lüfte, indem ſie die alte Haut, die einſt als Ruderfloſſe vorſprang, nun gar als Segel vom Finger zum Schenkel ſpannt. Und doch biſt du auch dieſe Eidechſe nicht mehr. Da liegſt du — und da ſie. Ihr beide im Sonnenbad, beide ſelig und wohlig ob dieſer Sonne. Und doch ſo verſchieden. Dein Leib freut ſich der Sonne, ihre Wärme umſchmeichelt dich wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/108
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/108>, abgerufen am 03.05.2024.