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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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ihren weißen Kehlchen hier in ihrem Liebestümpel rudern ihn
dir vor, -- sie singen ihn dir vor.

Wohl sitzen sie noch in der Pfütze bei ihrem Zeugungsfest.
Aber sie sind auf dem Lande schon so gut zu Haus wie im
Wasser. Beidlebige nennt sie der Naturforscher, Amphibien.
In ihrer Jugend, als Kaulquäpplein, schwimmen sie zwar noch
gleich echten Fischen kiemenatmend im Storchteich, wie nach ur¬
alter lieber Tradition, von der ihr Geschlecht sich noch nicht
ganz losreißen kann. Aber auch du als Mensch hast ja noch
Kiemenspalten im Mutterleibe. Dieser Tümpel mit seiner
sonnenwarmen Flut ist gleichsam der Kaulquäppchen gemein¬
samer Mutterleib. Eines Tages wird aber die Kröte reiner
Luftatmer wie du, sie verliert ganz ihre Kiemen und verdaut
die Luft ausschließlich mit demselben Darmsack, den du auch
hast -- mit der Lunge. Und damit ist sie Bürger einer anderen
Welt -- nicht mehr der Fisch-Welt, sondern deiner Welt.

Ihre vier Haifisch- und Molchfisch-Flossen sind echte Beine
geworden. Zwei Vorderbeine, zwei Hinterbeine. Wie einst
dort der Rücken im ganzen, so hat jetzt auch jedes dieser Glieder
sein "Brett" bekommen, das es innerlich stützt -- sogar ein
überaus verwickeltes, in Gelenken kunstvoll bewegliches Knochen-
Brett. Und unten an jedem Gliede sitzt bei der Kröte schon
die eigentliche Krone des ganzen Land-Bewegungsapparats: die
Pfote, der Fuß. Schon siehst du da am Hinterfuß die be¬
rühmte Fünfzahl der Zehen. Hier, bei diesem Krötenfuß, be¬
ginnt ein weites, strahlendes Kapitel deiner eigenen Kultur¬
geschichte. An seinen fünf Fingern und fünf Zehen hat der
Mensch in der Kindheit seiner Kultur zählen gelernt. Von
hier ging die Grundlage seines Rechnens aus, noch heute im
Dezimalsystem verewigt. Mit diesem Rechnen aber erschloß sich
ihm die höchste aller Offenbarungen: die Gesetzmäßigkeit der
Welt. Kein Gott im flammenden Dornbusch hat dem Menschen
einen höheren Weg gewiesen als diese Zehnzahl seiner Finger.

Aber es war auch dieser gleiche fünfzehige Amphibienfuß,

ihren weißen Kehlchen hier in ihrem Liebestümpel rudern ihn
dir vor, — ſie ſingen ihn dir vor.

Wohl ſitzen ſie noch in der Pfütze bei ihrem Zeugungsfeſt.
Aber ſie ſind auf dem Lande ſchon ſo gut zu Haus wie im
Waſſer. Beidlebige nennt ſie der Naturforſcher, Amphibien.
In ihrer Jugend, als Kaulquäpplein, ſchwimmen ſie zwar noch
gleich echten Fiſchen kiemenatmend im Storchteich, wie nach ur¬
alter lieber Tradition, von der ihr Geſchlecht ſich noch nicht
ganz losreißen kann. Aber auch du als Menſch haſt ja noch
Kiemenſpalten im Mutterleibe. Dieſer Tümpel mit ſeiner
ſonnenwarmen Flut iſt gleichſam der Kaulquäppchen gemein¬
ſamer Mutterleib. Eines Tages wird aber die Kröte reiner
Luftatmer wie du, ſie verliert ganz ihre Kiemen und verdaut
die Luft ausſchließlich mit demſelben Darmſack, den du auch
haſt — mit der Lunge. Und damit iſt ſie Bürger einer anderen
Welt — nicht mehr der Fiſch-Welt, ſondern deiner Welt.

Ihre vier Haifiſch- und Molchfiſch-Floſſen ſind echte Beine
geworden. Zwei Vorderbeine, zwei Hinterbeine. Wie einſt
dort der Rücken im ganzen, ſo hat jetzt auch jedes dieſer Glieder
ſein „Brett“ bekommen, das es innerlich ſtützt — ſogar ein
überaus verwickeltes, in Gelenken kunſtvoll bewegliches Knochen-
Brett. Und unten an jedem Gliede ſitzt bei der Kröte ſchon
die eigentliche Krone des ganzen Land-Bewegungsapparats: die
Pfote, der Fuß. Schon ſiehſt du da am Hinterfuß die be¬
rühmte Fünfzahl der Zehen. Hier, bei dieſem Krötenfuß, be¬
ginnt ein weites, ſtrahlendes Kapitel deiner eigenen Kultur¬
geſchichte. An ſeinen fünf Fingern und fünf Zehen hat der
Menſch in der Kindheit ſeiner Kultur zählen gelernt. Von
hier ging die Grundlage ſeines Rechnens aus, noch heute im
Dezimalſyſtem verewigt. Mit dieſem Rechnen aber erſchloß ſich
ihm die höchſte aller Offenbarungen: die Geſetzmäßigkeit der
Welt. Kein Gott im flammenden Dornbuſch hat dem Menſchen
einen höheren Weg gewieſen als dieſe Zehnzahl ſeiner Finger.

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[90/0106] ihren weißen Kehlchen hier in ihrem Liebestümpel rudern ihn dir vor, — ſie ſingen ihn dir vor. Wohl ſitzen ſie noch in der Pfütze bei ihrem Zeugungsfeſt. Aber ſie ſind auf dem Lande ſchon ſo gut zu Haus wie im Waſſer. Beidlebige nennt ſie der Naturforſcher, Amphibien. In ihrer Jugend, als Kaulquäpplein, ſchwimmen ſie zwar noch gleich echten Fiſchen kiemenatmend im Storchteich, wie nach ur¬ alter lieber Tradition, von der ihr Geſchlecht ſich noch nicht ganz losreißen kann. Aber auch du als Menſch haſt ja noch Kiemenſpalten im Mutterleibe. Dieſer Tümpel mit ſeiner ſonnenwarmen Flut iſt gleichſam der Kaulquäppchen gemein¬ ſamer Mutterleib. Eines Tages wird aber die Kröte reiner Luftatmer wie du, ſie verliert ganz ihre Kiemen und verdaut die Luft ausſchließlich mit demſelben Darmſack, den du auch haſt — mit der Lunge. Und damit iſt ſie Bürger einer anderen Welt — nicht mehr der Fiſch-Welt, ſondern deiner Welt. Ihre vier Haifiſch- und Molchfiſch-Floſſen ſind echte Beine geworden. Zwei Vorderbeine, zwei Hinterbeine. Wie einſt dort der Rücken im ganzen, ſo hat jetzt auch jedes dieſer Glieder ſein „Brett“ bekommen, das es innerlich ſtützt — ſogar ein überaus verwickeltes, in Gelenken kunſtvoll bewegliches Knochen- Brett. Und unten an jedem Gliede ſitzt bei der Kröte ſchon die eigentliche Krone des ganzen Land-Bewegungsapparats: die Pfote, der Fuß. Schon ſiehſt du da am Hinterfuß die be¬ rühmte Fünfzahl der Zehen. Hier, bei dieſem Krötenfuß, be¬ ginnt ein weites, ſtrahlendes Kapitel deiner eigenen Kultur¬ geſchichte. An ſeinen fünf Fingern und fünf Zehen hat der Menſch in der Kindheit ſeiner Kultur zählen gelernt. Von hier ging die Grundlage ſeines Rechnens aus, noch heute im Dezimalſyſtem verewigt. Mit dieſem Rechnen aber erſchloß ſich ihm die höchſte aller Offenbarungen: die Geſetzmäßigkeit der Welt. Kein Gott im flammenden Dornbuſch hat dem Menſchen einen höheren Weg gewieſen als dieſe Zehnzahl ſeiner Finger. Aber es war auch dieſer gleiche fünfzehige Amphibienfuß,

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/106>, abgerufen am 22.11.2024.