Umschließe sie noch einmal ganz mit deinem Blick: in ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬ tausende zusammenzufließen scheint -- sie, die Menschheit ist und Weltgeheimnis ist.
Woher stammt dieses Wunderwerk, das die alte Erde nun seit fast vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen Weltengarten zwischen Menschenauge und Doppelstern?
Es ist Kunst.
Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine Fläche mit Farben gemalt wie dieses. Die anderen in Marmor zu ganzem Umriß ausgeformt. Die milesische Venus mit ihrer aufrecht starken, unbesiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid schmilzt. Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von Florenz, die alles Süßeste als genossen noch einmal träumt. Eine enge, innerlich verwandte Genossenschaft, die in stiller Schöne hier und dort aus der schnellen, wechselnden, grau ab¬ strömenden Flut der Menschengenerationen ragt.
Keines dieser Weiber hat im einfach menschlichen Sinne je "gelebt". Keines ist erzeugt durch den körperlichen Akt organischer Fortpflanzung. Und doch stehen sie in all ihrer Schöne mitten unter uns. Sie stehen da, erzeugt aus einer unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen Hingabe eines menschlichen Individuums an ein Neues, ein Zweites, an ein "Schaffen", eine Übertragung des höchsten Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den Tod dieses Ich überleben soll. Mit dem Geiste und der vom Geiste bis in jede feinste Muskel durchwärmten Hand sind sie
Empor!
Noch einmal recke deine Flügel aus.
Die Madonna Rafaels giebt dir nochmals Kraft.
Umſchließe ſie noch einmal ganz mit deinem Blick: in ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬ tauſende zuſammenzufließen ſcheint — ſie, die Menſchheit iſt und Weltgeheimnis iſt.
Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde nun ſeit faſt vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelſtern?
Es iſt Kunſt.
Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine Fläche mit Farben gemalt wie dieſes. Die anderen in Marmor zu ganzem Umriß ausgeformt. Die mileſiſche Venus mit ihrer aufrecht ſtarken, unbeſiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid ſchmilzt. Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von Florenz, die alles Süßeſte als genoſſen noch einmal träumt. Eine enge, innerlich verwandte Genoſſenſchaft, die in ſtiller Schöne hier und dort aus der ſchnellen, wechſelnden, grau ab¬ ſtrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt.
Keines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne je „gelebt“. Keines iſt erzeugt durch den körperlichen Akt organiſcher Fortpflanzung. Und doch ſtehen ſie in all ihrer Schöne mitten unter uns. Sie ſtehen da, erzeugt aus einer unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen Hingabe eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein Zweites, an ein „Schaffen“, eine Übertragung des höchſten Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den Tod dieſes Ich überleben ſoll. Mit dem Geiſte und der vom Geiſte bis in jede feinſte Muskel durchwärmten Hand ſind ſie
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0056"n="40"/><p>Empor!</p><lb/><p>Noch einmal recke deine Flügel aus.</p><lb/><p>Die Madonna Rafaels giebt dir nochmals Kraft.</p><lb/><p>Umſchließe ſie noch einmal ganz mit deinem Blick: in<lb/>
ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit<lb/>
ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬<lb/>
tauſende zuſammenzufließen ſcheint —ſie, die Menſchheit iſt<lb/>
und Weltgeheimnis iſt.</p><lb/><p>Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde<lb/>
nun ſeit faſt vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo<lb/>
wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen<lb/>
Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelſtern?</p><lb/><p>Es iſt Kunſt.</p><lb/><p>Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer<lb/>
Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine<lb/>
Fläche mit Farben gemalt wie dieſes. Die anderen in Marmor<lb/>
zu ganzem Umriß ausgeformt. Die mileſiſche Venus mit ihrer<lb/>
aufrecht ſtarken, unbeſiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel<lb/>
Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid ſchmilzt.<lb/>
Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von<lb/>
Florenz, die alles Süßeſte als genoſſen noch einmal träumt.<lb/>
Eine enge, innerlich verwandte Genoſſenſchaft, die in ſtiller<lb/>
Schöne hier und dort aus der ſchnellen, wechſelnden, grau ab¬<lb/>ſtrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt.</p><lb/><p>Keines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne<lb/>
je „gelebt“. Keines iſt erzeugt durch den körperlichen Akt<lb/>
organiſcher Fortpflanzung. Und doch ſtehen ſie in all ihrer<lb/>
Schöne mitten unter uns. Sie ſtehen da, erzeugt aus einer<lb/>
unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen<lb/>
Hingabe eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein<lb/>
Zweites, an ein „Schaffen“, eine Übertragung des höchſten<lb/>
Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den<lb/>
Tod dieſes Ich überleben ſoll. Mit dem Geiſte und der vom<lb/>
Geiſte bis in jede feinſte Muskel durchwärmten Hand ſind ſie<lb/></p></div></body></text></TEI>
[40/0056]
Empor!
Noch einmal recke deine Flügel aus.
Die Madonna Rafaels giebt dir nochmals Kraft.
Umſchließe ſie noch einmal ganz mit deinem Blick: in
ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit
ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬
tauſende zuſammenzufließen ſcheint — ſie, die Menſchheit iſt
und Weltgeheimnis iſt.
Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde
nun ſeit faſt vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo
wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen
Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelſtern?
Es iſt Kunſt.
Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer
Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine
Fläche mit Farben gemalt wie dieſes. Die anderen in Marmor
zu ganzem Umriß ausgeformt. Die mileſiſche Venus mit ihrer
aufrecht ſtarken, unbeſiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel
Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid ſchmilzt.
Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von
Florenz, die alles Süßeſte als genoſſen noch einmal träumt.
Eine enge, innerlich verwandte Genoſſenſchaft, die in ſtiller
Schöne hier und dort aus der ſchnellen, wechſelnden, grau ab¬
ſtrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt.
Keines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne
je „gelebt“. Keines iſt erzeugt durch den körperlichen Akt
organiſcher Fortpflanzung. Und doch ſtehen ſie in all ihrer
Schöne mitten unter uns. Sie ſtehen da, erzeugt aus einer
unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen
Hingabe eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein
Zweites, an ein „Schaffen“, eine Übertragung des höchſten
Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den
Tod dieſes Ich überleben ſoll. Mit dem Geiſte und der vom
Geiſte bis in jede feinſte Muskel durchwärmten Hand ſind ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/56>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.