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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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mäßiges, in der Menschheitsentwickelung notwendiges Werden
zu sehen.

Ja, das Bild wird erst jetzt so riesig, daß dem Auge
schwindelt. Es starrt wie in einen Trichter, in dem die Schemen
der zerfallenen Individuen, der überwundenen, wie welkes
Laub dahingesunkenen Ideen auf und nieder wogen gleich den
zwitschernden, fledermausartigen Schatten der Homerischen Unter¬
welt. Kein Gedanke, daß ein Riß wirklich zwischen Liebe und
Liebe klafft. Der ganze kolossale wilde Unterbau der Ge¬
schlechtsliebe -- vom Tier herauf, vom Fisch, von der Ein¬
tagsfliege -- ist nötig, um die große Menschenschöpfung der
Menschheitsliebe organisch werden zu lassen. In der Geschlechts¬
liebe mußten die rohen, einsamen, vom Nahrungskampf ge¬
hetzten Individuen sich zähmen, sich zu einander finden, als
Mann und Weib, als Mutter und Kind, als blutsverwandtes
Geschlecht. Aus ihr wuchsen soziale Verbände auf. Schon im
Tierreich. Unerschütterlich stark dann in der Menschenwelt.
Jahrtausende, lange Jahrtausende mußte das Blut sie auch
hier immer noch wieder schließen, das heiße Blut, das von den
Geschlechtsorganen ausströmte und erwärmt wurde.

Langsam dann, ganz langsam wandelte sich das alles
in Geist.

Wie das Blut Geist ward: das ist die große, durch¬
schlagende Geheimgeschichte der Menschheit.

Es ist auch die Geschichte der Menschenliebe.

Aus der realen Blutsverwandtschaft sproßte wie eine erste
zaghafte Blume, die noch die Wintersonne bleich hält, der
ideelle Begriff einer seelischen Stammeseinheit, der Heiligkeit
und Unantastbarkeit des Stammesindividuums auch jenseits aller
Geschlechtswünsche.

Noch war der Schritt riesig bis zu der Übertragung dieses
Begriffs auf ein nicht unmittelbar blutsverwandtes Geschlecht.
Auf ein ganzes Volk, dessen Blut höchstens in mythischer Ur¬
väterzeit noch in wirklichem Aderschlag zusammengeflossen sein

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mäßiges, in der Menſchheitsentwickelung notwendiges Werden
zu ſehen.

Ja, das Bild wird erſt jetzt ſo rieſig, daß dem Auge
ſchwindelt. Es ſtarrt wie in einen Trichter, in dem die Schemen
der zerfallenen Individuen, der überwundenen, wie welkes
Laub dahingeſunkenen Ideen auf und nieder wogen gleich den
zwitſchernden, fledermausartigen Schatten der Homeriſchen Unter¬
welt. Kein Gedanke, daß ein Riß wirklich zwiſchen Liebe und
Liebe klafft. Der ganze koloſſale wilde Unterbau der Ge¬
ſchlechtsliebe — vom Tier herauf, vom Fiſch, von der Ein¬
tagsfliege — iſt nötig, um die große Menſchenſchöpfung der
Menſchheitsliebe organiſch werden zu laſſen. In der Geſchlechts¬
liebe mußten die rohen, einſamen, vom Nahrungskampf ge¬
hetzten Individuen ſich zähmen, ſich zu einander finden, als
Mann und Weib, als Mutter und Kind, als blutsverwandtes
Geſchlecht. Aus ihr wuchſen ſoziale Verbände auf. Schon im
Tierreich. Unerſchütterlich ſtark dann in der Menſchenwelt.
Jahrtauſende, lange Jahrtauſende mußte das Blut ſie auch
hier immer noch wieder ſchließen, das heiße Blut, das von den
Geſchlechtsorganen auſſtrömte und erwärmt wurde.

Langſam dann, ganz langſam wandelte ſich das alles
in Geist.

Wie das Blut Geiſt ward: das iſt die große, durch¬
ſchlagende Geheimgeſchichte der Menſchheit.

Es iſt auch die Geſchichte der Menſchenliebe.

Aus der realen Blutsverwandtſchaft ſproßte wie eine erſte
zaghafte Blume, die noch die Winterſonne bleich hält, der
ideelle Begriff einer ſeeliſchen Stammeseinheit, der Heiligkeit
und Unantaſtbarkeit des Stammesindividuums auch jenſeits aller
Geſchlechtswünſche.

Noch war der Schritt rieſig bis zu der Übertragung dieſes
Begriffs auf ein nicht unmittelbar blutsverwandtes Geſchlecht.
Auf ein ganzes Volk, deſſen Blut höchſtens in mythiſcher Ur¬
väterzeit noch in wirklichem Aderſchlag zuſammengefloſſen ſein

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[33/0049] mäßiges, in der Menſchheitsentwickelung notwendiges Werden zu ſehen. Ja, das Bild wird erſt jetzt ſo rieſig, daß dem Auge ſchwindelt. Es ſtarrt wie in einen Trichter, in dem die Schemen der zerfallenen Individuen, der überwundenen, wie welkes Laub dahingeſunkenen Ideen auf und nieder wogen gleich den zwitſchernden, fledermausartigen Schatten der Homeriſchen Unter¬ welt. Kein Gedanke, daß ein Riß wirklich zwiſchen Liebe und Liebe klafft. Der ganze koloſſale wilde Unterbau der Ge¬ ſchlechtsliebe — vom Tier herauf, vom Fiſch, von der Ein¬ tagsfliege — iſt nötig, um die große Menſchenſchöpfung der Menſchheitsliebe organiſch werden zu laſſen. In der Geſchlechts¬ liebe mußten die rohen, einſamen, vom Nahrungskampf ge¬ hetzten Individuen ſich zähmen, ſich zu einander finden, als Mann und Weib, als Mutter und Kind, als blutsverwandtes Geſchlecht. Aus ihr wuchſen ſoziale Verbände auf. Schon im Tierreich. Unerſchütterlich ſtark dann in der Menſchenwelt. Jahrtauſende, lange Jahrtauſende mußte das Blut ſie auch hier immer noch wieder ſchließen, das heiße Blut, das von den Geſchlechtsorganen auſſtrömte und erwärmt wurde. Langſam dann, ganz langſam wandelte ſich das alles in Geist. Wie das Blut Geiſt ward: das iſt die große, durch¬ ſchlagende Geheimgeſchichte der Menſchheit. Es iſt auch die Geſchichte der Menſchenliebe. Aus der realen Blutsverwandtſchaft ſproßte wie eine erſte zaghafte Blume, die noch die Winterſonne bleich hält, der ideelle Begriff einer ſeeliſchen Stammeseinheit, der Heiligkeit und Unantaſtbarkeit des Stammesindividuums auch jenſeits aller Geſchlechtswünſche. Noch war der Schritt rieſig bis zu der Übertragung dieſes Begriffs auf ein nicht unmittelbar blutsverwandtes Geſchlecht. Auf ein ganzes Volk, deſſen Blut höchſtens in mythiſcher Ur¬ väterzeit noch in wirklichem Aderſchlag zuſammengefloſſen ſein 3

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/49>, abgerufen am 25.04.2024.