Erst in dieser Tertiärzeit begann der Mensch. In all den Jahrtausenden seines Emporganges, von der wilden Steinzeit neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höchsten Weihe¬ stunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am einsamen Strom, am stillen Bach dieser ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege begleitet. Sie schwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht auf, als er am Euphrat zuerst in den Sternen las, als er am Nil über das Mysterium des Lebens sann, als er am Ilissos eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor schuf zum Ersatz für diese Welt des Kummers und der Dunkelheit.
Und immer dasselbe. Immer dieses Ersterben der In¬ dividuen für die Art, dieser gleiche Sinnentaumel, zusammen¬ gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, dieser jähe, dunkle Wandel der Zwecke ... Jahrtausende, Jahrmillionen, Zeit¬ räume, in denen die Sternbilder sich verschieben, in denen das Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der Fixsterne, die leisen, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬ lungen der Erdbahn und Erdstellung sichtbar wie große Mark¬ steine werden: und alle zwei, drei Jahre in dieser unabseh¬ baren Folge zwei Stunden, in denen das Schicksal einer Gat¬ tung wie ein Wurfball geschleudert von einer Generation zur folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum fast im Augenblick seines Todes noch Weltgeschichte wird und in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwischen verschollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, längst ver¬ glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort sich herauf¬ schiebt bis auf diesen Tag.
Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬ seligt sich und stirbt.
Aber du, der einsame, späte, unendlich hoch verstiegene Epigone all dieser niederen Tierheit, stehst am Ufer und starrst den kleinen blassen Liebesleichen nach und sinnst, -- sinnst dem Geheimnis nach in diesem Liebestanz und Totentanz .....
Was ist die Liebe?
Erſt in dieſer Tertiärzeit begann der Menſch. In all den Jahrtauſenden ſeines Emporganges, von der wilden Steinzeit neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höchſten Weihe¬ ſtunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am einſamen Strom, am ſtillen Bach dieſer ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege begleitet. Sie ſchwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht auf, als er am Euphrat zuerſt in den Sternen las, als er am Nil über das Myſterium des Lebens ſann, als er am Iliſſos eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor ſchuf zum Erſatz für dieſe Welt des Kummers und der Dunkelheit.
Und immer dasſelbe. Immer dieſes Erſterben der In¬ dividuen für die Art, dieſer gleiche Sinnentaumel, zuſammen¬ gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, dieſer jähe, dunkle Wandel der Zwecke ... Jahrtauſende, Jahrmillionen, Zeit¬ räume, in denen die Sternbilder ſich verſchieben, in denen das Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der Fixſterne, die leiſen, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬ lungen der Erdbahn und Erdſtellung ſichtbar wie große Mark¬ ſteine werden: und alle zwei, drei Jahre in dieſer unabſeh¬ baren Folge zwei Stunden, in denen das Schickſal einer Gat¬ tung wie ein Wurfball geſchleudert von einer Generation zur folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum faſt im Augenblick ſeines Todes noch Weltgeſchichte wird und in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwiſchen verſchollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, längſt ver¬ glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort ſich herauf¬ ſchiebt bis auf dieſen Tag.
Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬ ſeligt ſich und ſtirbt.
Aber du, der einſame, ſpäte, unendlich hoch verſtiegene Epigone all dieſer niederen Tierheit, ſtehſt am Ufer und ſtarrſt den kleinen blaſſen Liebesleichen nach und ſinnſt, — ſinnſt dem Geheimnis nach in dieſem Liebestanz und Totentanz .....
Was iſt die Liebe?
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[15/0031]
Erſt in dieſer Tertiärzeit begann der Menſch. In all den
Jahrtauſenden ſeines Emporganges, von der wilden Steinzeit
neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höchſten Weihe¬
ſtunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am einſamen Strom,
am ſtillen Bach dieſer ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege
begleitet. Sie ſchwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht
auf, als er am Euphrat zuerſt in den Sternen las, als er am
Nil über das Myſterium des Lebens ſann, als er am Iliſſos
eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor ſchuf zum
Erſatz für dieſe Welt des Kummers und der Dunkelheit.
Und immer dasſelbe. Immer dieſes Erſterben der In¬
dividuen für die Art, dieſer gleiche Sinnentaumel, zuſammen¬
gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, dieſer jähe, dunkle
Wandel der Zwecke ... Jahrtauſende, Jahrmillionen, Zeit¬
räume, in denen die Sternbilder ſich verſchieben, in denen das
Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der
Fixſterne, die leiſen, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬
lungen der Erdbahn und Erdſtellung ſichtbar wie große Mark¬
ſteine werden: und alle zwei, drei Jahre in dieſer unabſeh¬
baren Folge zwei Stunden, in denen das Schickſal einer Gat¬
tung wie ein Wurfball geſchleudert von einer Generation zur
folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum
faſt im Augenblick ſeines Todes noch Weltgeſchichte wird und
in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwiſchen
verſchollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, längſt ver¬
glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort ſich herauf¬
ſchiebt bis auf dieſen Tag.
Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬
ſeligt ſich und ſtirbt.
Aber du, der einſame, ſpäte, unendlich hoch verſtiegene
Epigone all dieſer niederen Tierheit, ſtehſt am Ufer und ſtarrſt
den kleinen blaſſen Liebesleichen nach und ſinnſt, — ſinnſt dem
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/31>, abgerufen am 24.11.2024.
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