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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Es hat höchst geistreiche Leute gegeben, die das sehr
realiter sich so durchgeführt dachten. Wie der Darm allein ver¬
daut, dann aber die Nährkraft durch alle Zellen treibt, so sollte
das Fortpflanzungsorgan allein Zeugungsstoffe produzieren, aber
es sollte dazu von allen Zellen einzeln ein Stückchen Nähr¬
kraft erhalten, Nährkraft, die (vielleicht als winzigstes Zell¬
teilchen übertragen) an dem Abkömmling der Samenzelle, dem
Kinde, gerade die Gestalt jeder einzelnen Zelle wieder genau so
wiederherstellen sollte. Jede Zelle auch deines Muttermals lieferte
deinem Geschlechtsorgan ein winzigstes Teilchen Material, das, in
jede Samenzelle aufgenommen, jedes Kind aus solchem Samen
unter Umständen auch genau wieder mit diesem Muttermal¬
stückchen versehen konnte: das Kind erhielt schließlich das ganze
Muttermal wieder! Darwin hat diese Erklärung am genauesten
ausgemalt und "Pangenesis" getauft. Du siehst wohl: stimmte
die Sache so, so ließe sie sich unserer Entwickelungskette oben
glatt einfügen. Aber es ist nun sehr die Frage, ob sie gerade
so stimmt. Ich habe dir nicht die Vererbungsfrage für sich
selber eigentlich beantwortet, sondern ich habe dir eine Hypo¬
these eines geistvollen Mannes vorgetragen. Es giebt noch
andere. Das Gebiet der Vererbung wimmelt, wuchert, strotzt
zur Stunde von Hypothesen, -- eigentlich überzeugend aber ist
gar keine. Die Darwinsche Anschauung ist gleichsam die
derbste, roheste. Um das Problem selbst handgreiflich klar zu
machen, ist sie zweifellos die anschaulichste. Aber es ist fast
mehr als wahrscheinlich, daß die Dinge in Wahrheit sehr viel
verwickelter liegen. Ich will dir noch einen groben Einwurf
dagegen anführen, der gleich noch einen Schritt weiter in die
moderne Vererbungsdebatte hineinlenkt.

Wenu jede Zelle des Zellenverbandes zeit ihres Lebens
auf jede Samenzelle direkt im Sinne Darwins einzuwirken
fortfährt, so müßte wohl folgendes richtig sein. Du hast, sagen
wir, von Haus aus kein Muttermal gehabt. Aber eines Tages
hat dir einer aus Versehen die Wange verbrannt, so daß ein

Es hat höchſt geiſtreiche Leute gegeben, die das ſehr
realiter ſich ſo durchgeführt dachten. Wie der Darm allein ver¬
daut, dann aber die Nährkraft durch alle Zellen treibt, ſo ſollte
das Fortpflanzungsorgan allein Zeugungsſtoffe produzieren, aber
es ſollte dazu von allen Zellen einzeln ein Stückchen Nähr¬
kraft erhalten, Nährkraft, die (vielleicht als winzigſtes Zell¬
teilchen übertragen) an dem Abkömmling der Samenzelle, dem
Kinde, gerade die Geſtalt jeder einzelnen Zelle wieder genau ſo
wiederherſtellen ſollte. Jede Zelle auch deines Muttermals lieferte
deinem Geſchlechtsorgan ein winzigſtes Teilchen Material, das, in
jede Samenzelle aufgenommen, jedes Kind aus ſolchem Samen
unter Umſtänden auch genau wieder mit dieſem Muttermal¬
ſtückchen verſehen konnte: das Kind erhielt ſchließlich das ganze
Muttermal wieder! Darwin hat dieſe Erklärung am genaueſten
ausgemalt und „Pangeneſis“ getauft. Du ſiehſt wohl: ſtimmte
die Sache ſo, ſo ließe ſie ſich unſerer Entwickelungskette oben
glatt einfügen. Aber es iſt nun ſehr die Frage, ob ſie gerade
ſo ſtimmt. Ich habe dir nicht die Vererbungsfrage für ſich
ſelber eigentlich beantwortet, ſondern ich habe dir eine Hypo¬
theſe eines geiſtvollen Mannes vorgetragen. Es giebt noch
andere. Das Gebiet der Vererbung wimmelt, wuchert, ſtrotzt
zur Stunde von Hypotheſen, — eigentlich überzeugend aber iſt
gar keine. Die Darwinſche Anſchauung iſt gleichſam die
derbſte, roheſte. Um das Problem ſelbſt handgreiflich klar zu
machen, iſt ſie zweifellos die anſchaulichſte. Aber es iſt faſt
mehr als wahrſcheinlich, daß die Dinge in Wahrheit ſehr viel
verwickelter liegen. Ich will dir noch einen groben Einwurf
dagegen anführen, der gleich noch einen Schritt weiter in die
moderne Vererbungsdebatte hineinlenkt.

Wenu jede Zelle des Zellenverbandes zeit ihres Lebens
auf jede Samenzelle direkt im Sinne Darwins einzuwirken
fortfährt, ſo müßte wohl folgendes richtig ſein. Du haſt, ſagen
wir, von Haus aus kein Muttermal gehabt. Aber eines Tages
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[187/0203] Es hat höchſt geiſtreiche Leute gegeben, die das ſehr realiter ſich ſo durchgeführt dachten. Wie der Darm allein ver¬ daut, dann aber die Nährkraft durch alle Zellen treibt, ſo ſollte das Fortpflanzungsorgan allein Zeugungsſtoffe produzieren, aber es ſollte dazu von allen Zellen einzeln ein Stückchen Nähr¬ kraft erhalten, Nährkraft, die (vielleicht als winzigſtes Zell¬ teilchen übertragen) an dem Abkömmling der Samenzelle, dem Kinde, gerade die Geſtalt jeder einzelnen Zelle wieder genau ſo wiederherſtellen ſollte. Jede Zelle auch deines Muttermals lieferte deinem Geſchlechtsorgan ein winzigſtes Teilchen Material, das, in jede Samenzelle aufgenommen, jedes Kind aus ſolchem Samen unter Umſtänden auch genau wieder mit dieſem Muttermal¬ ſtückchen verſehen konnte: das Kind erhielt ſchließlich das ganze Muttermal wieder! Darwin hat dieſe Erklärung am genaueſten ausgemalt und „Pangeneſis“ getauft. Du ſiehſt wohl: ſtimmte die Sache ſo, ſo ließe ſie ſich unſerer Entwickelungskette oben glatt einfügen. Aber es iſt nun ſehr die Frage, ob ſie gerade ſo ſtimmt. Ich habe dir nicht die Vererbungsfrage für ſich ſelber eigentlich beantwortet, ſondern ich habe dir eine Hypo¬ theſe eines geiſtvollen Mannes vorgetragen. Es giebt noch andere. Das Gebiet der Vererbung wimmelt, wuchert, ſtrotzt zur Stunde von Hypotheſen, — eigentlich überzeugend aber iſt gar keine. Die Darwinſche Anſchauung iſt gleichſam die derbſte, roheſte. Um das Problem ſelbſt handgreiflich klar zu machen, iſt ſie zweifellos die anſchaulichſte. Aber es iſt faſt mehr als wahrſcheinlich, daß die Dinge in Wahrheit ſehr viel verwickelter liegen. Ich will dir noch einen groben Einwurf dagegen anführen, der gleich noch einen Schritt weiter in die moderne Vererbungsdebatte hineinlenkt. Wenu jede Zelle des Zellenverbandes zeit ihres Lebens auf jede Samenzelle direkt im Sinne Darwins einzuwirken fortfährt, ſo müßte wohl folgendes richtig ſein. Du haſt, ſagen wir, von Haus aus kein Muttermal gehabt. Aber eines Tages hat dir einer aus Verſehen die Wange verbrannt, ſo daß ein

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/203>, abgerufen am 23.11.2024.