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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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rohen Zellklumpen der Kugel nach und nach in ein geordnetes
Haus verwandelt. Du hast gesehen, wie zum Beispiel Haut,
Magen, Mund sich bildeten, -- die Arbeitsteilung im Zell¬
verband schafft diese ersten Organe. Warum soll, was beim
Fressen dort geschieht, nicht auch vorher oder nachher mit der
Liebe geschehen sein?

Jede Zelle im Verbande fühlt das Bedürfnis zu fressen
und auszuscheiden ursprünglich ebenso, wie sie die höheren Funk¬
tionen der Selbstteilung und Aussendung abgeteilter Leibesteile
auf die Liebessuche als Bedürfnis fühlt. Dennoch sehen wir,
wie ein großer Teil der Verbandszellen sich nach und nach
das eigentliche Fressen ganz abgewöhnt (und damit auch das
Ausscheiden!), weil eine gewisse Anzahl Zellen diese Thätig¬
keit für alle andern mit übernommen hat. Diese Zellen er¬
halten den abgeklärten Lebenssaft zum Stoffwechselersatz direkt
von den Freßzellen, ohne daß sie sich selbst noch um Fressen
und Verdauen zu kümmern haben. Warum soll's nicht ge¬
rade so mit der Fortpflanzung gehen oder schon vorher ge¬
gangen sein?

Es war schon ein Vorteil, ja eine Art Arbeitsteilung in
jeder Einzelzelle selbst, daß sie nicht mehr ganz in Fortpflan¬
zungsstücke zu zerfallen brauchte, sondern sich bloß eine Ecke in
ihrem Zellleibe dafür reservierte. Wie viel mehr Vorteil, wenn
von hundert Zellen neunundneunzig jetzt auch diesen Reserve¬
winkel ganz in sich abschaffen konnten und dafür eine Zelle
die ganze Fortpflanzung allein übernahm, allein sich, für alle
andern mit, in Samenzellen oder Eizellen teilte!

Der allgemeine Gedanke ist so plausibel, daß er kaum noch
weiter ausgeführt zu werden braucht. Wie der Magen sich als
ein gemeinsames "Freßorgan", ein Freßbureau gleichsam mit
separatem Betrieb, aber öffentlichem Gewinnanschluß für den
gesamten Verband, in der Zellgenossenschaft ausbilden konnte,
so konnten sich genau ebenso besondere Fortpflanzungsdeparte¬
ments in der Gesamtzellmasse ausbilden: -- besondere Fort¬

rohen Zellklumpen der Kugel nach und nach in ein geordnetes
Haus verwandelt. Du haſt geſehen, wie zum Beiſpiel Haut,
Magen, Mund ſich bildeten, — die Arbeitsteilung im Zell¬
verband ſchafft dieſe erſten Organe. Warum ſoll, was beim
Freſſen dort geſchieht, nicht auch vorher oder nachher mit der
Liebe geſchehen ſein?

Jede Zelle im Verbande fühlt das Bedürfnis zu freſſen
und auszuſcheiden urſprünglich ebenſo, wie ſie die höheren Funk¬
tionen der Selbſtteilung und Ausſendung abgeteilter Leibesteile
auf die Liebesſuche als Bedürfnis fühlt. Dennoch ſehen wir,
wie ein großer Teil der Verbandszellen ſich nach und nach
das eigentliche Freſſen ganz abgewöhnt (und damit auch das
Ausſcheiden!), weil eine gewiſſe Anzahl Zellen dieſe Thätig¬
keit für alle andern mit übernommen hat. Dieſe Zellen er¬
halten den abgeklärten Lebensſaft zum Stoffwechſelerſatz direkt
von den Freßzellen, ohne daß ſie ſich ſelbſt noch um Freſſen
und Verdauen zu kümmern haben. Warum ſoll's nicht ge¬
rade ſo mit der Fortpflanzung gehen oder ſchon vorher ge¬
gangen ſein?

Es war ſchon ein Vorteil, ja eine Art Arbeitsteilung in
jeder Einzelzelle ſelbſt, daß ſie nicht mehr ganz in Fortpflan¬
zungsſtücke zu zerfallen brauchte, ſondern ſich bloß eine Ecke in
ihrem Zellleibe dafür reſervierte. Wie viel mehr Vorteil, wenn
von hundert Zellen neunundneunzig jetzt auch dieſen Reſerve¬
winkel ganz in ſich abſchaffen konnten und dafür eine Zelle
die ganze Fortpflanzung allein übernahm, allein ſich, für alle
andern mit, in Samenzellen oder Eizellen teilte!

Der allgemeine Gedanke iſt ſo plauſibel, daß er kaum noch
weiter ausgeführt zu werden braucht. Wie der Magen ſich als
ein gemeinſames „Freßorgan“, ein Freßbureau gleichſam mit
ſeparatem Betrieb, aber öffentlichem Gewinnanſchluß für den
geſamten Verband, in der Zellgenoſſenſchaft ausbilden konnte,
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[183/0199] rohen Zellklumpen der Kugel nach und nach in ein geordnetes Haus verwandelt. Du haſt geſehen, wie zum Beiſpiel Haut, Magen, Mund ſich bildeten, — die Arbeitsteilung im Zell¬ verband ſchafft dieſe erſten Organe. Warum ſoll, was beim Freſſen dort geſchieht, nicht auch vorher oder nachher mit der Liebe geſchehen ſein? Jede Zelle im Verbande fühlt das Bedürfnis zu freſſen und auszuſcheiden urſprünglich ebenſo, wie ſie die höheren Funk¬ tionen der Selbſtteilung und Ausſendung abgeteilter Leibesteile auf die Liebesſuche als Bedürfnis fühlt. Dennoch ſehen wir, wie ein großer Teil der Verbandszellen ſich nach und nach das eigentliche Freſſen ganz abgewöhnt (und damit auch das Ausſcheiden!), weil eine gewiſſe Anzahl Zellen dieſe Thätig¬ keit für alle andern mit übernommen hat. Dieſe Zellen er¬ halten den abgeklärten Lebensſaft zum Stoffwechſelerſatz direkt von den Freßzellen, ohne daß ſie ſich ſelbſt noch um Freſſen und Verdauen zu kümmern haben. Warum ſoll's nicht ge¬ rade ſo mit der Fortpflanzung gehen oder ſchon vorher ge¬ gangen ſein? Es war ſchon ein Vorteil, ja eine Art Arbeitsteilung in jeder Einzelzelle ſelbſt, daß ſie nicht mehr ganz in Fortpflan¬ zungsſtücke zu zerfallen brauchte, ſondern ſich bloß eine Ecke in ihrem Zellleibe dafür reſervierte. Wie viel mehr Vorteil, wenn von hundert Zellen neunundneunzig jetzt auch dieſen Reſerve¬ winkel ganz in ſich abſchaffen konnten und dafür eine Zelle die ganze Fortpflanzung allein übernahm, allein ſich, für alle andern mit, in Samenzellen oder Eizellen teilte! Der allgemeine Gedanke iſt ſo plauſibel, daß er kaum noch weiter ausgeführt zu werden braucht. Wie der Magen ſich als ein gemeinſames „Freßorgan“, ein Freßbureau gleichſam mit ſeparatem Betrieb, aber öffentlichem Gewinnanſchluß für den geſamten Verband, in der Zellgenoſſenſchaft ausbilden konnte, ſo konnten ſich genau ebenſo beſondere Fortpflanzungsdeparte¬ ments in der Geſamtzellmaſſe ausbilden: — beſondere Fort¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/199>, abgerufen am 28.04.2024.