Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

Bild:
<< vorherige Seite
Wie weit sich ein Poet
"wahrscheinlich sind, denen möglichen, die bey
"ihrer Möglichkeit ungläublich sind, vorziehen."

Warum sollte ein Poet, der die Sachen nicht
so sehr vorstellen muß, wie sie wircklich sind,
als wie sie wahrscheinlich seyn könnten, von ei-
nem Erfolge oder Wirckung nicht eine wahr-
scheinliche Ursache angeben dürffen? Warum
sollte z. E. ein Dichter, wenn er schon das alte
Systema von dem Umlauffe der Sonne um die
Erden, als den Mittelpunct ihres Kreises, vor ei-
nen irrigen Wahn hält, doch aus demselben in ei-
nem Gedichte nicht manches Phänomenon erklä-
ren dörfen? Warum sollte er nicht eine Sym-
pathie und angeborne natürliche Neigung für die
Ursache mancher Begebenheit angeben dörfen?
Warum sollte er nicht von Gott dem Herren
selbst z. E. sagen dürffen, der Sünder ist auch
in dem geheimsten und finstersten Winckel nicht
alleine, noch verborgen, denn das Auge des
Herren sieht, durchdringt und erleuchtet alles;
da selbst die H. Schrift von Gott nach mensch-
licher Art zu reden pflegt? Es sagt zwar J. A.
K. dadurch gebe man Anlaß zu Jrrthümern:
Aber er sage mir, wie müßte man reden, wie
müßte man schreiben, wie müßte man dichten,
wenn man davor gäntzlich gesichert seyn wollte?
Gerade die H. Schrift selbst ward von den An-
thropomorphiten zu einem Anlasse eines groben
Jrrthums genommen: kan man darum die
Schuld dieses Jrrthums der H. Schrift zumes-
sen? oder wünschen, daß sie von Gott etwa phi-
losophischer möchte geredt haben? Hat uns
nicht der Schöpfer gegen den Betrug des Jrr-

thums
Wie weit ſich ein Poet
„wahrſcheinlich ſind, denen moͤglichen, die bey
„ihrer Moͤglichkeit unglaͤublich ſind, vorziehen.„

Warum ſollte ein Poet, der die Sachen nicht
ſo ſehr vorſtellen muß, wie ſie wircklich ſind,
als wie ſie wahrſcheinlich ſeyn koͤnnten, von ei-
nem Erfolge oder Wirckung nicht eine wahr-
ſcheinliche Urſache angeben duͤrffen? Warum
ſollte z. E. ein Dichter, wenn er ſchon das alte
Syſtema von dem Umlauffe der Sonne um die
Erden, als den Mittelpunct ihres Kreiſes, vor ei-
nen irrigen Wahn haͤlt, doch aus demſelben in ei-
nem Gedichte nicht manches Phaͤnomenon erklaͤ-
ren doͤrfen? Warum ſollte er nicht eine Sym-
pathie und angeborne natuͤrliche Neigung fuͤr die
Urſache mancher Begebenheit angeben doͤrfen?
Warum ſollte er nicht von Gott dem Herren
ſelbſt z. E. ſagen duͤrffen, der Suͤnder iſt auch
in dem geheimſten und finſterſten Winckel nicht
alleine, noch verborgen, denn das Auge des
Herren ſieht, durchdringt und erleuchtet alles;
da ſelbſt die H. Schrift von Gott nach menſch-
licher Art zu reden pflegt? Es ſagt zwar J. A.
K. dadurch gebe man Anlaß zu Jrrthuͤmern:
Aber er ſage mir, wie muͤßte man reden, wie
muͤßte man ſchreiben, wie muͤßte man dichten,
wenn man davor gaͤntzlich geſichert ſeyn wollte?
Gerade die H. Schrift ſelbſt ward von den An-
thropomorphiten zu einem Anlaſſe eines groben
Jrrthums genommen: kan man darum die
Schuld dieſes Jrrthums der H. Schrift zumeſ-
ſen? oder wuͤnſchen, daß ſie von Gott etwa phi-
loſophiſcher moͤchte geredt haben? Hat uns
nicht der Schoͤpfer gegen den Betrug des Jrr-

thums
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <cit>
          <quote><pb facs="#f0028" n="26"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Wie weit &#x017F;ich ein Poet</hi></fw><lb/>
&#x201E;wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;ind, denen mo&#x0364;glichen, die bey<lb/>
&#x201E;ihrer Mo&#x0364;glichkeit ungla&#x0364;ublich &#x017F;ind, vorziehen.&#x201E;</quote>
        </cit><lb/>
        <p>Warum &#x017F;ollte ein Poet, der die Sachen nicht<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ehr vor&#x017F;tellen muß, wie &#x017F;ie wircklich &#x017F;ind,<lb/>
als wie &#x017F;ie wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;eyn ko&#x0364;nnten, von ei-<lb/>
nem Erfolge oder Wirckung nicht eine wahr-<lb/>
&#x017F;cheinliche Ur&#x017F;ache angeben du&#x0364;rffen? Warum<lb/>
&#x017F;ollte z. E. ein Dichter, wenn er &#x017F;chon das alte<lb/>
Sy&#x017F;tema von dem Umlauffe der Sonne um die<lb/>
Erden, als den Mittelpunct ihres Krei&#x017F;es, vor ei-<lb/>
nen irrigen Wahn ha&#x0364;lt, doch aus dem&#x017F;elben in ei-<lb/>
nem Gedichte nicht manches Pha&#x0364;nomenon erkla&#x0364;-<lb/>
ren do&#x0364;rfen? Warum &#x017F;ollte er nicht eine Sym-<lb/>
pathie und angeborne natu&#x0364;rliche Neigung fu&#x0364;r die<lb/>
Ur&#x017F;ache mancher Begebenheit angeben do&#x0364;rfen?<lb/>
Warum &#x017F;ollte er nicht von Gott dem Herren<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t z. E. &#x017F;agen du&#x0364;rffen, der Su&#x0364;nder i&#x017F;t auch<lb/>
in dem geheim&#x017F;ten und fin&#x017F;ter&#x017F;ten Winckel nicht<lb/>
alleine, noch verborgen, denn das Auge des<lb/>
Herren &#x017F;ieht, durchdringt und erleuchtet alles;<lb/>
da &#x017F;elb&#x017F;t die H. Schrift von Gott nach men&#x017F;ch-<lb/>
licher Art zu reden pflegt? Es &#x017F;agt zwar J. A.<lb/>
K. dadurch gebe man Anlaß zu Jrrthu&#x0364;mern:<lb/>
Aber er &#x017F;age mir, wie mu&#x0364;ßte man reden, wie<lb/>
mu&#x0364;ßte man &#x017F;chreiben, wie mu&#x0364;ßte man dichten,<lb/>
wenn man davor ga&#x0364;ntzlich ge&#x017F;ichert &#x017F;eyn wollte?<lb/>
Gerade die H. Schrift &#x017F;elb&#x017F;t ward von den An-<lb/>
thropomorphiten zu einem Anla&#x017F;&#x017F;e eines groben<lb/>
Jrrthums genommen: kan man darum die<lb/>
Schuld die&#x017F;es Jrrthums der H. Schrift zume&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en? oder wu&#x0364;n&#x017F;chen, daß &#x017F;ie von Gott etwa phi-<lb/>
lo&#x017F;ophi&#x017F;cher mo&#x0364;chte geredt haben? Hat uns<lb/>
nicht der Scho&#x0364;pfer gegen den Betrug des Jrr-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">thums</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0028] Wie weit ſich ein Poet „wahrſcheinlich ſind, denen moͤglichen, die bey „ihrer Moͤglichkeit unglaͤublich ſind, vorziehen.„ Warum ſollte ein Poet, der die Sachen nicht ſo ſehr vorſtellen muß, wie ſie wircklich ſind, als wie ſie wahrſcheinlich ſeyn koͤnnten, von ei- nem Erfolge oder Wirckung nicht eine wahr- ſcheinliche Urſache angeben duͤrffen? Warum ſollte z. E. ein Dichter, wenn er ſchon das alte Syſtema von dem Umlauffe der Sonne um die Erden, als den Mittelpunct ihres Kreiſes, vor ei- nen irrigen Wahn haͤlt, doch aus demſelben in ei- nem Gedichte nicht manches Phaͤnomenon erklaͤ- ren doͤrfen? Warum ſollte er nicht eine Sym- pathie und angeborne natuͤrliche Neigung fuͤr die Urſache mancher Begebenheit angeben doͤrfen? Warum ſollte er nicht von Gott dem Herren ſelbſt z. E. ſagen duͤrffen, der Suͤnder iſt auch in dem geheimſten und finſterſten Winckel nicht alleine, noch verborgen, denn das Auge des Herren ſieht, durchdringt und erleuchtet alles; da ſelbſt die H. Schrift von Gott nach menſch- licher Art zu reden pflegt? Es ſagt zwar J. A. K. dadurch gebe man Anlaß zu Jrrthuͤmern: Aber er ſage mir, wie muͤßte man reden, wie muͤßte man ſchreiben, wie muͤßte man dichten, wenn man davor gaͤntzlich geſichert ſeyn wollte? Gerade die H. Schrift ſelbſt ward von den An- thropomorphiten zu einem Anlaſſe eines groben Jrrthums genommen: kan man darum die Schuld dieſes Jrrthums der H. Schrift zumeſ- ſen? oder wuͤnſchen, daß ſie von Gott etwa phi- loſophiſcher moͤchte geredt haben? Hat uns nicht der Schoͤpfer gegen den Betrug des Jrr- thums

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/28
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/28>, abgerufen am 26.04.2024.