Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite

Hrn. Vatry Gedancken
platz verändert hätte, da die Personen, die ihn in-
nen gehabt, nicht von ihrem Platze gekommen wä-
ren. Die Chöre dieneten auch die Dauer der
Handlung anzuzeigen: die Aufführung eines
Trauerspieles daurete bey ihnen kaum eine längere
Zeit, als man zu der gespielten Handlung selber
nöthig gehabt hätte. Diese Richtigkeit gab ihm
ein wahrscheinliches Ansehen, das eine von seinen
grössesten Schönheiten ausmachete.

Ueber dieses hielten sie den Zuseher auf, ohne
daß sie ihn müssig stehen liessen, und sie banden das
Ende eines Aufzuges mit dem Anfange des folgen-
den zusammen, welches mehr bedeutet, als man
meynen möchte, massen diese Verbindung dienet,
die Einheit der Handlung zu bemercken. Unsere
fünf Aufzüge, die von einander gesondert stehen,
formieren gewissermassen fünf verschiedene Stücke,
die man nach einander spielt. Mit welcher Wahr-
scheinlichkeit begeben sich übrigens alle tragischen
Handlungen allemahl auf einerley Art, und ver-
schwinden die spielenden Personen ordentlicher
Weise, als wenn es abgeredet worden wäre, vier-
mahl?

Es ist leicht zu sehen, was vor eine Mannigfal-
tigkeit die Chöre in die Tragödie brachten. Was vor
Mannigfaltigkeit kan in der That nicht eine Mu-
sik mit sich führen, welche sich in alle die verschie-
dene Gemüthesstände, und alle die verschiedene
Empfindungen schicket, die in einem geschickten
Trauerspiele vorkommen? - - - -

Alleine, wendet man ein, es ist nichts unnatür-
lichers, als in eine so ernstliche und so gravitätische

Hand-

Hrn. Vatry Gedancken
platz veraͤndert haͤtte, da die Perſonen, die ihn in-
nen gehabt, nicht von ihrem Platze gekommen waͤ-
ren. Die Choͤre dieneten auch die Dauer der
Handlung anzuzeigen: die Auffuͤhrung eines
Trauerſpieles daurete bey ihnen kaum eine laͤngere
Zeit, als man zu der geſpielten Handlung ſelber
noͤthig gehabt haͤtte. Dieſe Richtigkeit gab ihm
ein wahrſcheinliches Anſehen, das eine von ſeinen
groͤſſeſten Schoͤnheiten ausmachete.

Ueber dieſes hielten ſie den Zuſeher auf, ohne
daß ſie ihn muͤſſig ſtehen lieſſen, und ſie banden das
Ende eines Aufzuges mit dem Anfange des folgen-
den zuſammen, welches mehr bedeutet, als man
meynen moͤchte, maſſen dieſe Verbindung dienet,
die Einheit der Handlung zu bemercken. Unſere
fuͤnf Aufzuͤge, die von einander geſondert ſtehen,
formieren gewiſſermaſſen fuͤnf verſchiedene Stuͤcke,
die man nach einander ſpielt. Mit welcher Wahr-
ſcheinlichkeit begeben ſich uͤbrigens alle tragiſchen
Handlungen allemahl auf einerley Art, und ver-
ſchwinden die ſpielenden Perſonen ordentlicher
Weiſe, als wenn es abgeredet worden waͤre, vier-
mahl?

Es iſt leicht zu ſehen, was vor eine Mannigfal-
tigkeit die Choͤre in die Tragoͤdie brachten. Was vor
Mannigfaltigkeit kan in der That nicht eine Mu-
ſik mit ſich fuͤhren, welche ſich in alle die verſchie-
dene Gemuͤthesſtaͤnde, und alle die verſchiedene
Empfindungen ſchicket, die in einem geſchickten
Trauerſpiele vorkommen? ‒ ‒ ‒ ‒

Alleine, wendet man ein, es iſt nichts unnatuͤr-
lichers, als in eine ſo ernſtliche und ſo gravitaͤtiſche

Hand-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0088" n="88"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Hrn. Vatry Gedancken</hi></fw><lb/>
platz vera&#x0364;ndert ha&#x0364;tte, da die Per&#x017F;onen, die ihn in-<lb/>
nen gehabt, nicht von ihrem Platze gekommen wa&#x0364;-<lb/>
ren. Die Cho&#x0364;re dieneten auch die Dauer der<lb/>
Handlung anzuzeigen: die Auffu&#x0364;hrung eines<lb/>
Trauer&#x017F;pieles daurete bey ihnen kaum eine la&#x0364;ngere<lb/>
Zeit, als man zu der ge&#x017F;pielten Handlung &#x017F;elber<lb/>
no&#x0364;thig gehabt ha&#x0364;tte. Die&#x017F;e Richtigkeit gab ihm<lb/>
ein wahr&#x017F;cheinliches An&#x017F;ehen, das eine von &#x017F;einen<lb/>
gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten Scho&#x0364;nheiten ausmachete.</p><lb/>
        <p>Ueber die&#x017F;es hielten &#x017F;ie den Zu&#x017F;eher auf, ohne<lb/>
daß &#x017F;ie ihn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;tehen lie&#x017F;&#x017F;en, und &#x017F;ie banden das<lb/>
Ende eines Aufzuges mit dem Anfange des folgen-<lb/>
den zu&#x017F;ammen, welches mehr bedeutet, als man<lb/>
meynen mo&#x0364;chte, ma&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;e Verbindung dienet,<lb/>
die Einheit der Handlung zu bemercken. Un&#x017F;ere<lb/>
fu&#x0364;nf Aufzu&#x0364;ge, die von einander ge&#x017F;ondert &#x017F;tehen,<lb/>
formieren gewi&#x017F;&#x017F;erma&#x017F;&#x017F;en fu&#x0364;nf ver&#x017F;chiedene Stu&#x0364;cke,<lb/>
die man nach einander &#x017F;pielt. Mit welcher Wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlichkeit begeben &#x017F;ich u&#x0364;brigens alle tragi&#x017F;chen<lb/>
Handlungen allemahl auf einerley Art, und ver-<lb/>
&#x017F;chwinden die &#x017F;pielenden Per&#x017F;onen ordentlicher<lb/>
Wei&#x017F;e, als wenn es abgeredet worden wa&#x0364;re, vier-<lb/>
mahl?</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t leicht zu &#x017F;ehen, was vor eine Mannigfal-<lb/>
tigkeit die Cho&#x0364;re in die Trago&#x0364;die brachten. Was vor<lb/>
Mannigfaltigkeit kan in der That nicht eine Mu-<lb/>
&#x017F;ik mit &#x017F;ich fu&#x0364;hren, welche &#x017F;ich in alle die ver&#x017F;chie-<lb/>
dene Gemu&#x0364;thes&#x017F;ta&#x0364;nde, und alle die ver&#x017F;chiedene<lb/>
Empfindungen &#x017F;chicket, die in einem ge&#x017F;chickten<lb/>
Trauer&#x017F;piele vorkommen? &#x2012; &#x2012; &#x2012; &#x2012;</p><lb/>
        <p>Alleine, wendet man ein, es i&#x017F;t nichts unnatu&#x0364;r-<lb/>
lichers, als in eine &#x017F;o ern&#x017F;tliche und &#x017F;o gravita&#x0364;ti&#x017F;che<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Hand-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[88/0088] Hrn. Vatry Gedancken platz veraͤndert haͤtte, da die Perſonen, die ihn in- nen gehabt, nicht von ihrem Platze gekommen waͤ- ren. Die Choͤre dieneten auch die Dauer der Handlung anzuzeigen: die Auffuͤhrung eines Trauerſpieles daurete bey ihnen kaum eine laͤngere Zeit, als man zu der geſpielten Handlung ſelber noͤthig gehabt haͤtte. Dieſe Richtigkeit gab ihm ein wahrſcheinliches Anſehen, das eine von ſeinen groͤſſeſten Schoͤnheiten ausmachete. Ueber dieſes hielten ſie den Zuſeher auf, ohne daß ſie ihn muͤſſig ſtehen lieſſen, und ſie banden das Ende eines Aufzuges mit dem Anfange des folgen- den zuſammen, welches mehr bedeutet, als man meynen moͤchte, maſſen dieſe Verbindung dienet, die Einheit der Handlung zu bemercken. Unſere fuͤnf Aufzuͤge, die von einander geſondert ſtehen, formieren gewiſſermaſſen fuͤnf verſchiedene Stuͤcke, die man nach einander ſpielt. Mit welcher Wahr- ſcheinlichkeit begeben ſich uͤbrigens alle tragiſchen Handlungen allemahl auf einerley Art, und ver- ſchwinden die ſpielenden Perſonen ordentlicher Weiſe, als wenn es abgeredet worden waͤre, vier- mahl? Es iſt leicht zu ſehen, was vor eine Mannigfal- tigkeit die Choͤre in die Tragoͤdie brachten. Was vor Mannigfaltigkeit kan in der That nicht eine Mu- ſik mit ſich fuͤhren, welche ſich in alle die verſchie- dene Gemuͤthesſtaͤnde, und alle die verſchiedene Empfindungen ſchicket, die in einem geſchickten Trauerſpiele vorkommen? ‒ ‒ ‒ ‒ Alleine, wendet man ein, es iſt nichts unnatuͤr- lichers, als in eine ſo ernſtliche und ſo gravitaͤtiſche Hand-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/88
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/88>, abgerufen am 02.05.2024.