Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite


Des Herrn Vatry Gedancken von
den Chören in den Trauerspielen.

DEr Hr. Abt Vatry, ein Mitglied der
Frantzösischen Academie der Alterthü-
mer und der Literatur, hat in einer ei-
genen Dissertation gezeiget, daß das
Trauerspiel in seinem Ursprunge nichts anders als ein
Hymnus zum Lobe des Bacchus gewesen, wo man
gesungen und getanzet; Als nachgehends die Ma-
terien, von welchen man Gelegenheit genommen,
diesen Gott zu loben, erschöpfet worden, haben die
Poeten sich genöthiget gesehen, ihre Zuflucht zu
verschiedenen Erfindungen zu nehmen, damit sie
nicht allezeit einerley wieder aufwärmen müßten.
Daher seyn die Episodia entstanden, die wir heu-
tiges Tages Actus heissen; diese habe man durch
einen oder mehr Histrionen zwischen zweyen sol-
chen Lobgesängen oder Chören sagen lassen. Aus
diesen Episodien oder Handlungen sey nachmahls
der Cörper des Trauerspiels geworden, und die
Chöre seyn zulezt nichts weiter als ein Theil der-
selben gewesen, den man mit den andern auf eine
wahrscheinliche Art habe zusammen ordnen müs-
sen. Jndessen habe man dieselben nicht bloß der
Gewohnheit zu gefallen behalten, sondern wegen
der grossen Vortheile, welche das Trauerspiel daher
empfangen habe.

Diese Vortheile bestuhnden nach Herrn Vatry
in folgenden Stücken: Erstlich dieneten sie in das
Trauerfpiel mehr Ordnung und mehr Verschie-

den-
F 3


Des Herrn Vatry Gedancken von
den Choͤren in den Trauerſpielen.

DEr Hr. Abt Vatry, ein Mitglied der
Frantzoͤſiſchen Academie der Alterthuͤ-
mer und der Literatur, hat in einer ei-
genen Diſſertation gezeiget, daß das
Trauerſpiel in ſeinem Urſprunge nichts anders als ein
Hymnus zum Lobe des Bacchus geweſen, wo man
geſungen und getanzet; Als nachgehends die Ma-
terien, von welchen man Gelegenheit genommen,
dieſen Gott zu loben, erſchoͤpfet worden, haben die
Poeten ſich genoͤthiget geſehen, ihre Zuflucht zu
verſchiedenen Erfindungen zu nehmen, damit ſie
nicht allezeit einerley wieder aufwaͤrmen muͤßten.
Daher ſeyn die Epiſodia entſtanden, die wir heu-
tiges Tages Actus heiſſen; dieſe habe man durch
einen oder mehr Hiſtrionen zwiſchen zweyen ſol-
chen Lobgeſaͤngen oder Choͤren ſagen laſſen. Aus
dieſen Epiſodien oder Handlungen ſey nachmahls
der Coͤrper des Trauerſpiels geworden, und die
Choͤre ſeyn zulezt nichts weiter als ein Theil der-
ſelben geweſen, den man mit den andern auf eine
wahrſcheinliche Art habe zuſammen ordnen muͤſ-
ſen. Jndeſſen habe man dieſelben nicht bloß der
Gewohnheit zu gefallen behalten, ſondern wegen
der groſſen Vortheile, welche das Trauerſpiel daher
empfangen habe.

Dieſe Vortheile beſtuhnden nach Herrn Vatry
in folgenden Stuͤcken: Erſtlich dieneten ſie in das
Trauerfpiel mehr Ordnung und mehr Verſchie-

den-
F 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0085" n="85"/>
      <fw place="top" type="header">
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      </fw>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Des Herrn Vatry Gedancken von<lb/>
den Cho&#x0364;ren in den Trauer&#x017F;pielen.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>Er Hr. Abt Vatry, ein Mitglied der<lb/>
Frantzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Academie der Alterthu&#x0364;-<lb/>
mer und der Literatur, hat in einer ei-<lb/>
genen Di&#x017F;&#x017F;ertation gezeiget, daß das<lb/>
Trauer&#x017F;piel in &#x017F;einem Ur&#x017F;prunge nichts anders als ein<lb/>
Hymnus zum Lobe des Bacchus gewe&#x017F;en, wo man<lb/>
ge&#x017F;ungen und getanzet; Als nachgehends die Ma-<lb/>
terien, von welchen man Gelegenheit genommen,<lb/>
die&#x017F;en Gott zu loben, er&#x017F;cho&#x0364;pfet worden, haben die<lb/>
Poeten &#x017F;ich geno&#x0364;thiget ge&#x017F;ehen, ihre Zuflucht zu<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Erfindungen zu nehmen, damit &#x017F;ie<lb/>
nicht allezeit einerley wieder aufwa&#x0364;rmen mu&#x0364;ßten.<lb/>
Daher &#x017F;eyn die Epi&#x017F;odia ent&#x017F;tanden, die wir heu-<lb/>
tiges Tages Actus hei&#x017F;&#x017F;en; die&#x017F;e habe man durch<lb/>
einen oder mehr Hi&#x017F;trionen zwi&#x017F;chen zweyen &#x017F;ol-<lb/>
chen Lobge&#x017F;a&#x0364;ngen oder Cho&#x0364;ren &#x017F;agen la&#x017F;&#x017F;en. Aus<lb/>
die&#x017F;en Epi&#x017F;odien oder Handlungen &#x017F;ey nachmahls<lb/>
der Co&#x0364;rper des Trauer&#x017F;piels geworden, und die<lb/>
Cho&#x0364;re &#x017F;eyn zulezt nichts weiter als ein Theil der-<lb/>
&#x017F;elben gewe&#x017F;en, den man mit den andern auf eine<lb/>
wahr&#x017F;cheinliche Art habe zu&#x017F;ammen ordnen mu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en. Jnde&#x017F;&#x017F;en habe man die&#x017F;elben nicht bloß der<lb/>
Gewohnheit zu gefallen behalten, &#x017F;ondern wegen<lb/>
der gro&#x017F;&#x017F;en Vortheile, welche das Trauer&#x017F;piel daher<lb/>
empfangen habe.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e Vortheile be&#x017F;tuhnden nach Herrn Vatry<lb/>
in folgenden Stu&#x0364;cken: Er&#x017F;tlich dieneten &#x017F;ie in das<lb/>
Trauerfpiel mehr Ordnung und mehr Ver&#x017F;chie-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F 3</fw><fw place="bottom" type="catch">den-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0085] Des Herrn Vatry Gedancken von den Choͤren in den Trauerſpielen. DEr Hr. Abt Vatry, ein Mitglied der Frantzoͤſiſchen Academie der Alterthuͤ- mer und der Literatur, hat in einer ei- genen Diſſertation gezeiget, daß das Trauerſpiel in ſeinem Urſprunge nichts anders als ein Hymnus zum Lobe des Bacchus geweſen, wo man geſungen und getanzet; Als nachgehends die Ma- terien, von welchen man Gelegenheit genommen, dieſen Gott zu loben, erſchoͤpfet worden, haben die Poeten ſich genoͤthiget geſehen, ihre Zuflucht zu verſchiedenen Erfindungen zu nehmen, damit ſie nicht allezeit einerley wieder aufwaͤrmen muͤßten. Daher ſeyn die Epiſodia entſtanden, die wir heu- tiges Tages Actus heiſſen; dieſe habe man durch einen oder mehr Hiſtrionen zwiſchen zweyen ſol- chen Lobgeſaͤngen oder Choͤren ſagen laſſen. Aus dieſen Epiſodien oder Handlungen ſey nachmahls der Coͤrper des Trauerſpiels geworden, und die Choͤre ſeyn zulezt nichts weiter als ein Theil der- ſelben geweſen, den man mit den andern auf eine wahrſcheinliche Art habe zuſammen ordnen muͤſ- ſen. Jndeſſen habe man dieſelben nicht bloß der Gewohnheit zu gefallen behalten, ſondern wegen der groſſen Vortheile, welche das Trauerſpiel daher empfangen habe. Dieſe Vortheile beſtuhnden nach Herrn Vatry in folgenden Stuͤcken: Erſtlich dieneten ſie in das Trauerfpiel mehr Ordnung und mehr Verſchie- den- F 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/85
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/85>, abgerufen am 25.11.2024.